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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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denn je. Ihre Ruhe vertiefte sich in dem Maß, wie der Minister zappliger und ängstlicher wurde. Da war sie, die Verbindung zwischen den beiden, die ich bis jetzt vergeblich gesucht hatte.
    Und dann kam das Geräusch, von dem Raj Vir Singh gesprochen hatte, und wir alle verstanden es augenblicklich. Unendlich weit entfernt schien es mit unvorstellbarer Macht zu knirschen, und aus diesem Knirschen entwickelte sich ein unterdrückter Hall, volltönend wie eine Riesenglocke, und es wurde plötzlich klar, daß die Wand dieser Glocke die Erdschale war. Mit einer einzigen Bewegung, als hingen wir alle an einer zentrifugalen Kraft in der Mitte zwischen den Sophas, sprangen wir auf und wandten uns zu den bunten Glasflügeltüren, die den Saal rings umgaben. Raj Vir Singh preßte sich ohne jede Schläfrigkeit an den Türsturz der nächstgelegenen Flügeltür, seine Frau stand ihm gegenüber, den Blick zur Zimmerdecke erhoben. Prinzessin Karōna Devi stand allein in einer Tür, in der nächsten die Prinzessin von Kotah, in der nächsten der Minister, den schlaftrunkenen Sohn in den Armen, und die Hundefutterverkäuferin. Ich stand in der fünften Tür. Ohne einen Gedanken preßte ich mich an deren Laibung und hielt zugleich Iris umfangen, die mit mir in dieselbe Richtung gesprungen war. Der große Kronleuchter mit den roten geblasenen Glasglocken schwankte wie ein Pendel, und dann kam der Stoß, wie aus dem Innern des eigenen Körpers heraus, ich fühlte mich nicht mehr als Einzelwesen, sondern als Teil der ganzen in Erschütterung geratenen Welt. Iris klammerte sich an mich mit ihrem warmen, biegsamen Leib, und ich klammerte mich an sie, während wir beide auf den nächsten Stoß warteten. Keiner sagte ein Wort. Keiner schrie oder wandte sich an die andern. Das Pendeln des Kronleuchters wurde langsamer, und dennoch rührte sich niemand. Nach weiteren Augenblicken fühlte ich, daß Iris mich weniger fest hielt, und ließ gleichfalls los. Wir fielen gleichsam voneinander ab. Auch die anderen lösten sich von den Türrahmen. Noch tat niemand einen Schritt in den Raum hinein.
    Dann flogen die zentralen Torflügel auf, von Virah aufgestoßen. Auf der Schwelle stand der König, in dunkelblauem, hochgeschlossenem Anzug mit Brillantknöpfen. Als Prinzessin Karōna Devi ihren Schwager sah, entfuhr ihr vor Schreck ein kleiner Schrei. Mit einer einzigen Bewegung hatte sie sich ihren Sari als Schleier vors Gesicht gezogen, sank in einen tiefen Knicks und lief auf schnellen Füßen aus dem Zimmer.

7.
Indischer Dreck
    Am nächsten Morgen kamen mir der Minister, sein Sohn und Iris vor dem Palast entgegen. Ich gestehe, ich war verblüfft. Als sie gestern abend gemeinsam durch eines der bunten Glastore verschwunden waren, hatte das etwas vom Abgang auf dem Theater, ein Verschwinden in der Kulisse, hinter der sich das Haus nicht fortsetzte, sondern wo raumlose Schwärze herrschte. Ich war davon überzeugt, sie nie wiederzusehen. War es nicht, als habe der Erdstoß, der in Sanchor zum Glück keinen Schaden angerichtet, sondern es mit Angst und Kurzschlüssen hatte bewenden lassen, dem Gefüge dieser Menschen gestern abend einen Riß zugefügt?
    Glaubte man dem König, war es vor allem »die Demokratie«, die demnächst einstürzen werde. Ich kannte sein Lieblingsthema, aber dem Minister war bestimmt, hier zum erstenmal in seinem Leben einem Mann zu begegnen, der ohne Wenn und Aber der Demokratie den baldigen Untergang voraussagte und der diesen Untergang ohne Triumph, aber mit sichtlicher Befriedigung auch begrüßte. Dieses Gespräch fand an der langen Tafel statt, bei der so viel Abstand zwischen den einzelnen Gästen lag, daß eine Unterhaltung kaum möglich war. Der Minister mußte deshalb nahe an den König, der am Kopfende saß, heranrücken, von ihrem Gespräch bekam ich nur das Thema mit. Die aufgeräumte Miene des Königs verriet aber, daß er es genoß, einem aus dem Westen herbeigereisten Politiker den Geburtsschaden der Demokratie zu erläutern. War der Minister nicht eigens herbeigereist, um den Rat des Königs einzuholen? Die Vorlegung der Frage: Hoheit, sagen Sie uns mit Ihrer jahrtausendealten Erfahrung – wie sollen wir uns regieren? Anders wollte der König sich die Anwesenheit des Ministers keinesfalls erklären.
    Der Sohn schlief. Er hatte die Arme auf den Tisch gelegt und den Kopf hineingebettet. Die Diener servierten ihm und nahmen die vollen Teller unangerührt wieder weg. Mit Iris hatte ich nur durch die Augen

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