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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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zuhörte.
    »Es gibt Dinge, die machen mich wild«, sagte er leise auf deutsch in unsere Richtung. Nun, vor fruchtlosen Debatten, vor quälend ergebnislosen Auseinandersetzungen war er ein Leben lang nicht zurückgeschreckt. Er verdankte das Ministerium im Grunde seiner Pedanterie, denn in den höheren Parteigremien war man seiner Unterweisungen überdrüssig geworden. Es gab dort Leute, die sein Ministeramt als Abschiebung betrachteten.
    Iris hatte sich verändert, seitdem sich der Salon mit der Verwandtschaft unserer Gastgeber füllte. Sie saß jetzt manierlich da. Ihre Knie waren geschlossen. Ihr Ausdruck hatte die Teilnahmslosigkeit angenommen, die ich von den Gesichtern der indischen Damen kannte. Sie schwieg, und das war durchaus passend.
    Der kastanienspiegelnde Raj Vir Singh berichtete Trauriges mit der gelassensten Stimme der Welt. Während seiner Erziehung in dem englischen College für junge rajputische Aristokraten hatte er einen Akzent angenommen, als solle er bei einer Oscar-Wilde-Verfilmung mitwirken, und mit dem Tonfall ging eine Haltung einher, die Katastrophen nicht das Recht einräumte, den menschlichen Geist über Gebühr zu beeindrucken. Seine Sätze kamen gleichsam in Khaki gekleidet einher. Die Lider lagen schwer über den Augen und dämpften den ihm angeborenen, durchaus gefühlvollen Blick zu herrenhafter Gleichgültigkeit.
    Gestern hatte, wie man den beiläufig unter dem gezwirbelten Schnurrbart herausgepurzelten Worten entnehmen konnte, im Staat Gujarat die Erde gebebt. Obwohl das Dorf, aus dem der Raj stammte und das seine Familie seit Jahrhunderten regierte, weit weg vom Epizentrum des Bebens lag, war sein Palast, der noch aus der Zeit vor der englischen Herrschaft stammte, eingestürzt und in eine riesige Staubwolke verwandelt worden. Es stand nicht ein Stein mehr auf dem andern. Die Erdstöße hatten die Mauern aus getrocknetem Lehm zu Pulver werden lassen. Die Verwandten zeigten sich vom Untergang des alten Familiensitzes nicht besonders erschüttert. Ein schönes Haus sei es gewesen, sagte Prinzessin Butulika, aber in schlechtem Zustand. Man hätte sich entschließen müssen, etwas hineinzustecken.
    »Das haben wir uns zum Glück geschenkt«, sagte Raj Vir Singh mit herablassendem Lächeln.
    Der Minister löste sich aus seiner Diskussion. Besorgnis stand auf seinem kleinen Gesicht. Sei auch Sanchor Erdbebengebiet? Selbstverständlich, antwortete der Raj mit eigentümlich zufriedener Miene. Meist stünden die Beben von Gujarat mit denen von Sanchor sogar in Verbindung. Wenn an dem einen Tag in Gujarat die Häuser wackelten, setze sich dies Wackeln am nächsten Tag in Sanchor fort. Es sei wie ein Schauder, der über einen Körper lief. Sein Vater habe ihn gelehrt, ein Erdbeben vor dem ersten Stoß zu erkennen. Es sei dann ein tiefes Rumpeln in der Erde zu hören, nicht zu vergleichen mit irgendeinem anderen Geräusch. Man spüre plötzlich, daß die Erde hohl sei, daß die riesigen Erdplatten sich über einem Resonanzkörper aneinander rieben.
    Und dann, was geschehe dann, fragte der Minister. Er war Hypochonder in einem für ihn und andere schon lästigen Ausmaß. Wenn er von den Nierensteinen oder Lungenthrombosen anderer Leute hörte, spürte er augenblicklich ein deutliches Nierenstechen oder Lungenkrampfen und erst eine Untersuchungsserie beim Arzt brachte die Symptome allmählich zum Abklingen. Die bloße Vorstellung, er könne dazu verurteilt sein, dies von Raj Vir Singh erstaunlich farbig beschriebene Röhren aus den Eingeweiden der Erde zu hören, ließ ihn beinahe die Fassung verlieren.
    Auf freiem Feld tue man gut daran, sich nicht in der Nähe von Bäumen, Felsen oder Mauern aufzuhalten. Ein Erdstoß auf flachem Land sei schon unheimlich genug, sagte der schläfrige Raj. Sei man aber in einem Haus, dann solle man sich hüten herauszulaufen, denn das Beben folge dem leisen Donner aus der Tiefe meist unmittelbar. In Häusern eile man am besten unter einen Türsturz. Türstürze seien meistens solider gemauert als Decken und Wände. Häuser stürzten ein, aber die Türen blieben stehen, leider nicht in seinem eigenen Palast nahe Ahmedabad, da habe es auch die Türen zerkrümelt.
    Es herrschte Schweigen im großen Salon. Als draußen vor den Fenstern ein Hund zu heulen anfing, fuhr der Minister zusammen. Sein Sohn war in seinem Schoß eingeschlafen, sonst wäre er womöglich aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Iris blickte zu mir herüber. Sie sah jetzt indianischer aus

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