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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sprong
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geblieben, auf dem Boden der Tatsachen und Fakten.
    Heinrich und Kennedy hingegen verlassen ganz bewusst diesen Boden der Tatsachen und wechseln stattdessen hinüber ins Reich der Gefühle, Hoffnungen und Sehnsüchte, der persönlichsten Seelenregungen. Und sie wechseln vom Jetzt ins Morgen oder Übermorgen. Dazu entwerfen sie ein Gemälde, ein sprachliches Bild, in dem mit wenigen Pinselstrichen eine echt und gegenwärtig wirkende Illusionskulisse auf den inneren Leinwänden ihrer Zuhörer entsteht.
    Zu sehen sind auf diesem Bild im Falle Heinrichs: Ehre und Ansehen; im Falle Kennedys: Freiheit und Einheit! Nicht mehr zu sehen sind hier wie dort all die Beschwernisse und Einschränkungen der bisherigen Existenz. Heinrich lässt für den Moment die engen gottgewollten Standesschranken verschwinden, die die spätmittelalterliche Gesellschaft prägten und eine gleichberechtigte Begegnung zwischen dem Herrscher und seinen Soldaten ausschlossen. Und auch Kennedy lässt die Beschwernisse der »Belagerung« der Stadt für einen Moment vergessen.
    Der König »zieht« seine Soldaten »als seine Brüder« hinauf zu sich, oder besser: Er »steigt hinab« vom Podest des Redners, nicht auf den Boden der Tatsachen, sondern auf den gemeinsamen Grund, den er mit seinen Zuhörern teilt:
    »Denn welcher heute sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand.«
    Bei Kennedy heißt das:
    »Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.«
    Sowohl Heinrich als auch Kennedy verändern radikal das Statusgefüge, in dem sie und ihre Zuhörer bisher eingebunden waren, und zeigen damit eine rhetorische Haltung, ohne die wohl kaum je eine überzeugende Vision formuliert wurde.
    Gefühl, Glaubwürdigkeit (durch die Gewissheit und Sichtbarkeit des eigenen Standpunkts) und Gefolgschaft (durch die Formulierung einer wirkungsvollen Vision) – diese drei Kriterien dürfen zu Recht als notwendige (wenngleich noch nicht unbedingt hinreichende) Bedingungen für das rhetorische Gelingen gelten. Nur zum Teil wurzeln sie in der Rede selbst, mehr noch in der Haltung von Redner oder Rednerin noch vor aller rhetorischen Produktion.
    Wie aber kommt es eigentlich und wo genau sind die Gründe dafür zu suchen, dass diese Bedingungen des Gelingens offenbar selten vorliegen? Oder einfacher: Was hindert insbesondere deutsche Rednerinnen und Redner in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eigentlich daran, im oben dargelegten Sinne bessere Reden zu halten, als dies überwiegend der Fall ist?

Die (Selbst-)Befreiung der
Redner von falschen Schatten
Oder: Die Masken der Scham
    Jede Rede ist ein Auftritt. Jede Rede ist eine Inszenierung. Der Redner steht – getrennt vom Publikum – alleine auf einer Bühne. Sein Publikum sitzt ihm in langen Reihen, meist etwas unterhalb der eigenen Position, gegenüber. Nicht nur der Redner, auch die Zuhörer befinden sich in einer Ausnahmesituation: Dichter als es der biologisch programmierte Mindestabstand von rund dreißig Zentimetern, im »normalen Leben« strikt eingehalten, erlauben würde, sitzen sie in einer Situation besonderer Intimität beieinander. Die Trennung von »Publikum hier« und »Redner dort« wird so noch verstärkt und unterstrichen. Beide Seiten fühlen sich deshalb – ohne dass es ihnen bewusst wäre – an die beiden vergleichbaren Settings erinnert, an Theater und Kirche!
    Unversehens findet sich der Redner wieder in der Rolle eines Darstellers oder Schauspielers bzw. eines Predigers. In den wenigsten Fällen jedoch würden derartige Rollenzuschreibungen auf Zustimmung oder gar Begeisterung stoßen. Die meisten Redner haben durchaus »etwas Anständiges gelernt« und sind Experten ihres jeweiligen Fachgebietes, sei es die Juristerei, eine Naturwissenschaft, die Betriebswirtschaftslehre oder die Ingenieurswissenschaft. Was auch immer sie gelernt haben, Schauspieler oder Pfarrer wollten sie damit jedenfalls nicht werden.
    Und dann stehen sie doch auf der Bühne, vor ihnen ein erwartungsvolles Publikum. Dabei ist es in diesem Moment überhaupt nicht von Bedeutung, ob sie sich dessen schon bewusst sind und sich selbst bzw. den anderen versichern, dies hier sei doch »etwas ganz anderes«, allein schon deshalb, weil es ja hier »um Fakten« gehe. Die Macht des Raumes und der Szenerie, vor allem aber die

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