Das befreite Wort
Macht der inneren Bilder, die sich angesichts dieser Umstände aufdrängen, ist stärker. Und diese Bilder stürzen die Mehrzahl der Redner in einen schwerwiegenden Rollenkonflikt: Wenn sie dort oben stehen und reden, dann sind sie vor ihrem Bewusstsein nicht mehr die, die sie sein wollen bzw. die sie nach ihrer Auffassung sein sollen.
Gleichzeitig jedoch müssen sie einräumen: Niemand zwingt sie, dort zu stehen. Sicher, es gehört zu ihren Aufgaben als Entscheidungsträger und Führungskraft, gelegentlich vor anderen – auch vielen – zu sprechen. Insofern können sie sich schlecht der Situation verweigern. Oder noch offensiver formuliert: Sind sie denn nicht – zu einem Teil – sogar genau aus diesem Grund Führungskraft geworden: Damit sie vor und auch über allen anderen stehen? Damit man ihnen zuhört? Wollten sie nicht immer schon »etwas zu sagen« haben im Leben und »etwas darstellen«? War es nicht auch die Lust an der Macht und den damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten, die sie in ihre Ämter und Positionen geführt hat?
Nicht jede und nicht jeder kann diese Frage freudig und aus vollem Herzen bejahen. Warum eigentlich nicht? Was ist verwerflich am Streben nach Besonderheit und Auszeichnung, und was hindert viele daran, sich selbst mit Freude statt mit Angst »zur Schau zu stellen«?
Die Antworten – wenn sie nicht an der Oberfläche der Trickkisten-Ratgeber bleiben sollen – führen tief hinab: in die Untergrundgebiete der eigenen Seele, aber auch tief in die Kulturgeschichte der westlichen Welt. Sie erschließen sich aus der Betrachtung jener Rollenkonflikte, von denen Redner und Rednerinnen gequält werden; daraus, wie sie selbst ihre unguten Gefühle vor und während des Redens beschreiben; schließlich auch daraus, welche Vergleiche und Bilder sie benutzen und vor allem welche Personifikationen sie für sich selbst wählen. Drei solcher Rollenkonflikte, die sich jeweils zu einem Mythos formiert haben, scheinen dabei besonders verbreitet zu sein:
der Mythos der Manipulation
(»Ich bin doch nicht der Propaganda-Chef«)
der Mythos sündhafter Eitelkeit
(»Ich bin doch kein Selbstdarsteller«)
der Mythos der Authentizität
(»Ich bin doch kein Schauspieler«)
Ein kleiner Mann
mit langem Schatten
Was sich ändern müsste I: Die Befreiung der Rhetorik vom Mythos der Manipulation
Wer je einem klassischen deutschen Redeauftritt beiwohnen durfte, wer je zum Beispiel bleischwer die Lider sinken fühlte, während der Museumschef über das Oeuvre des ausgestellten Künstlers dozierte; wer je beim Bericht des Vorstands zum abgelaufenen Geschäftsjahr in der 65. Minute die Wut darüber in sich aufsteigen fühlte, dass die Hauptversammlungsakteure einer deutschen Aktiengesellschaft schamlos die Geduld und Nerven der Anteilseigner strapazieren; wer je im Boden versinken wollte vor Scham angesichts des stotternden Bräutigams, der die Liebeserklärung an seine Angetraute nicht über die Lippen bringt – wer all dies oder Ähnliches je erlebt hat, der hat ihn schon gesehen, wenn auch nicht unbedingt erkannt: den langen Schatten eines kleinen Mannes, der Verhängnisvolles für die rhetorische Praxis in Deutschland »geleistet« hat, den langen Schatten des NS-Reichspropagandaministers Joseph Goebbels! Vor allem hat er den verhängnisvollen Nachhall seiner berüchtigten Rede vom »Totalen Krieg« im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 vernommen.
Deutsche Redner (weniger übrigens die Rednerinnen), die sich auch nur in die Nähe der rhetorischen Grunddimension »Pathos« wagen, die Gefahr laufen, auch nur einen Hauch jener Begeisterung zu versprühen, die Heinrich V. oder John F. Kennedy zu vermitteln wussten, diese Redner reagieren – bevor es so weit kommt – reflexartig mit einem Rückzug ins Schneckenhaus der »Bodenständigkeit« und »Sachlichkeit«, der »harten Fakten« und »objektiven Zahlen«. So wie Goebbels zu wirken, als »zweiter Hitler« gar bezeichnet zu werden – das ist ein Risiko, das so groß erscheint, dass nahezu jedes Mittel recht ist, um es auszuschalten. Ähnlich wie bei individuellen Traumatisierungen hat auch das deutsche »Sportpalast-Trauma« zu einer Symptomatik der Starre und Versteinerung geführt. Auf ihr Konto geht ein beträchtlicher Teil der Langeweile und der fast zwanghaft überbewerteten »Sachlichkeit« deutscher Redebeiträge.
War es nicht 1986 ein Goebbels-Vergleich, der die Gemüter in Wallung versetzte, als nämlich der damalige Bundeskanzler
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