Das befreite Wort
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Ein Bild kann das Gemeinte wohl am besten verdeutlichen: Der Redner ähnelt in der aristotelischen Auffassung einem Schäfer, der auf der rechten Seite eines Flusses steht. Auf der gegenüberliegenden Seite weiden seine Schafe. Natürlich will er, dass die Schafe auf seine Seite hinüberwechseln – sei es, weil dort das Gras besser ist, der einmal eingeschlagene Weg der Reise auf dieser Seite weiterführt oder auch nur, weil es der Schäfer so für besser hält. Nun könnte er von seinem rechten Ufer aus die Schafe auf der gegenüberliegenden Seite durch Zu- und Lockrufe hinüberlocken. Ebenso ist denkbar, dass er dafür bereits eine Stelle des Flusses ausgesucht hat, die sich aufgrund einer Furt für diese Überquerung besonders eignet.
Trotzdem: Selbst wenn die Schafe dort drüben sein Rufen am hiesigen Ufer vernehmen, selbst wenn sie sich in seine Richtung in Bewegung setzen, werden sie doch vor dem fließenden Wasser, vor etwaigen Stromschnellen auch zurückschrecken und den Marsch durchs unangenehme Nass scheuen. Auch objektiv besteht Gefahr: Schafe, die sich trotz allem zur Überquerung entschlossen hätten, könnten auf dem Weg zum Schäfer abgetrieben werden und ertrinken. Und diejenigen, die am hiesigen Ufer ankämen, wären durchnässt, sie frören und brauchten lange Zeit, um das dichte Fell zu trocknen. Wahrscheinlich würden sie sich eine Erkältung einfangen.
Ein kluger Schäfer wird deshalb folgende Alternative wählen: Er wird Ausschau halten nach einer Brücke in der Nähe, und falls er keine findet, sogar selbst eine bauen. Er wird zunächst sich selbst auf den Weg über diese Brücke machen, den trennenden Fluss auf diese Weise überwinden und so auf die Seite seiner Schafe gelangen. Erst wenn er dort angekommen ist, wird er seine Lock- und Sammelrufe hören lassen, wird sich immer wieder auch umsehen, ob wirklich alle Tiere hinter ihm versammelt sind, und sich dann – an ihrer Spitze gehend – gemeinsam mit ihnen auf den Weg machen, auf einen Weg, den er kennt, weil er ihn selbst gegangen ist: zurück zur Brücke, über die Brücke hinüber auf die andere Seite zur neuen Weide. Und hier wie dort steht er auf der Seite seiner Schafe.
In der Sprachwissenschaft nennt man das: parallel zu den Überzeugungen des Empfängers sprechen. Denn entgegen der landläufigen Vorstellung von der Manipulation durch Rhetorik, »kamen Vertreter der empirischen Massenkommunikation schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts übereinstimmend zu der Überzeugung, dass die Möglichkeiten, mit Hilfe von Propaganda das Denken und Verhalten zu beeinflussen, recht begrenzt sind. Dies trifft demnach auch für Sprache zu, die als ein wesentliches Mittel der Propaganda fungiert. Der Propagandist wählt zusätzliche Informationen aus, die schon vorhandene Meinungen bestätigen. Er erreicht im Endeffekt nur jene, die von vornherein auf seiner Seite stehen […] [oder: auf deren Seite er steht!] Es ergibt sich, dass die Wirkungen der Massenkommunikation vor allem darin bestehen, dass schon vorher Geglaubtes und Gedachtes so weit aktiviert wird, dass passives Meinen zu aktiver Stellungnahme wird und im günstigsten Falle die Schwelle zum Handeln überschreitet.« 47
› Hinweis
Grundlegend für diese Erkenntnis ist die Auffassung, dass alle Kommunikation ein Handlungsgeschehen darstellt, bei dem es eben keineswegs nur auf die vom Sender ausgesendeten Signale ankommt, sondern mindestens ebenso sehr auf die Empfängerseite und ihre Interpretation dessen, was empfangen wird. Entscheidend ist, »Kommunikation als soziale Beziehung zu begreifen, die sich herstellt, indem zwei Akteure handeln und ihr Handeln wechselseitig auf sich beziehen. […] Beide, Sprecher und Hörer, entwerfen gemeinsam einen Sinn, der in gemeinsamen Handlungszielen besteht.« Daraus folgt: »Wenn beide Kommunikationsteilnehmer gemeinsam einen Sinn konstituieren, […] dann müssen Analysierende, um die daraus folgenden Handlungen der Kommunikation verstehen zu können, vom Sinn der Handelnden ausgehen. Zugleich folgt daraus, dass Meinungen nicht – wie von der Manipulationsthese behauptet – von der Seite des Produzenten vorgeformt und diese dann perzipierend von den Hörern lediglich aufgenommen werden. Dies entspräche einem eher behavioristischen Kommunikationsmodell. Sondern: Beide Seiten sind aktiv am Prozess der Sinnkonstitution beteiligt; demnach
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