Das befreite Wort
des Lebens, ganz besonders aber in den beiden ersten Lebensjahren
gestaltet werden. Eine herausragende Rolle spielen dabei die allerfrühesten »Inszenierungen« des passiven/perzeptiven Wahrnehmens und aktiven/expressiven Sichausdrückens im Kontakt insbesondere mit der Mutter:
»Einzig in diesem Hin und Her von Sehen und Gesehenwerden, von Hören und Gehörtwerden geschieht das Zueinanderpassen von Selbstbild und dem Begriff, den die anderen von uns besitzen. Die Wechselwirkung zwischen den Augen ist die intimste Beziehung, die zwischen den Menschen möglich ist. […] Wenn dieser Austausch in den ersten Lebensmonaten gestört ist, werden Selbstbild und Selbstgefühl zutiefst beeinträchtigt […] [Schon das zwei bis drei Monate alte Kind zeigt] eine durchgängige Abwendung des Blicks, wenn die Mutter zu zudringlich oder unberechenbar nahe und dann wieder fern zu sein pflegt […] [Wir wissen] heute, wie ursprünglich solche Bedürfnisse der Neugier und des Sichausdrückens in der frühesten Kindheit bemerkbar sind. Liebe wie Ungeliebtheit, Macht wie Ohnmacht – all das wird ganz mächtig in dieser Wechselwirkung zwischen Gesicht und Auge, Musikalität und Wärme der Stimme, in der Rhythmizität des gegenseitigen Ausdrucks zwischen Mutter und Kind [ausgetragen][…] Die Modi des aufmerksamen, neugierigen Begreifens und des Sichausdrückens in sowohl vorverbaler als auch verbaler Kommunikation sind der Schauplatz, auf dem unser Selbst in Liebe und Hass, in Sieg und Niederlage geformt wird.« 79
› Hinweis
Diese Einsicht ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zum Verständnis psychischer Störungen, sie liefert auch bedeutsame Informationen, um die Verhältnisse bei »ganz normalen« Menschen beurteilen zu können, d. h. bei solchen, in deren Biografie diese frühen Wechselwirkungen nicht schwer, sondern nur im üblichen Maße gestört wurden. Denn dass das »Hin und Her von Sehen und Gesehenwerden« in diesen frühen Lebensmonaten niemals frei von Missverständnissen sein kann, weiß jeder, der schon einmal einige Zeit in einer Interaktion mit einem Kleinkind verbracht hat. Was wir also aus diesen ersten Monaten unseres Lebens mitnehmen, ist eine mehr oder weniger erfolgreich verlaufene Geschichte des Sehens und Gesehenwerdens, des Wahrnehmens und des Sichausdrückens, und wir dürfen davon ausgehen, dass die emotionalen Erlebnisqualitäten dieser Zeit – in welcher Form und Verwandlung auch immer – im Erwachsenenalter wieder aufgerufen werden, wenn eine ähnliche Situation von »Sehen und Gesehenwerden« hergestellt wird, zum Beispiel beim Reden vor Publikum.
Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um eine explizit »delophile« Tätigkeit handelt, also um eine Handlung, die auf Selbstausdruck zielt – selbst dann, wenn die Person diesen Anteil intentional möglichst begrenzen will. Sie
»beinhaltet den Wunsch zu faszinieren – zu gefallen, zu blenden, zu betören, zu berauschen […] Wenn er befriedigt wird [resultiert] ein Gefühl der Größe, Großartigkeit und des ekstatischen Selbstvertrauens […] Wenn er frustriert wird, resultieren Verachtung gegenüber dem Objekt [Anm. des Verfassers: Objekt bedeutet hier Person, z. B. die Mutter, aber auch das Publikum] und Scham (als Selbstverachtung). Diese kulminieren in […] Schamangst […].« 80
› Hinweis
In einem solchen Moment der Scham(angst) kann das aktive Handeln in ein passives Erdulden umschlagen, kann die Selbstausstellung in ihrer zweiten Natur als Ausgeliefertsein erlebt werden. Dann graut dem Betroffenen davor, angestarrt, von Blicken der anderen überwältigt und verschlungen zu werden. Auch hier ist die affektive Reaktion Scham – man möchte sprichwörtlich »im Boden versinken« oder auf andere Weise unsichtbar werden, um sich dem Zugriff der eindringenden Blicke zu entziehen.
So unangenehm – und einflussreich – diese beiden Formen der Scham für den Redner auch sein mögen, er kann sich damit trösten, dass mehr oder weniger jeder davon betroffen ist. Andernfalls müsste man wohl von »Schamlosigkeit« sprechen, die wohl kaum jemand für sich beanspruchen wird (und die in Wahrheit höchst selten vorkommt, auch wenn es heute mitunter scheint, als sei Schamlosigkeit geradezu ubiquitär). 81
› Hinweis
Hilfreich für Redner, aber nicht nur für sie, ist ein erweitertes und differenzierteres Verständnis der Scham und ihrer Funktion. Denn sie kann auch aufgefasst werden als »Wächterin der Integrität«. Leon Wurmser
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