Das befreite Wort
Felix Krull, der prahlerisch eine falsche Wahrheit vortäuscht. Instinktiv orientierte er sich deshalb – mimisch durch den zum Manuskript gesenkten Blick und gestisch mit den zwischenzeitlich sogar zwischen den Knien eingeklemmten Unterarmen – nach unten, Richtung Boden, denn dort vermutete er Sicherheit: in der Bodenständigkeit. »Auf dem Teppich zu bleiben«, »den Ball flach zu halten« – das sind die eingeübten und hoch geschätzten Tugenden vieler Führungskräfte in Deutschland. Alles andere erscheint ihnen tendenziell »albern«.
Das ist der »Kompetenz-Irrtum«: Er konstruiert eine Antithese von Sein und Schein und behauptet: Wer etwas wirklich kann (oder leistet oder schafft …), hat es nicht nur nicht nötig, seine Kompetenz auch zu demonstrieren. Es ist vielmehr sogar ein Ausweis von geringerer Kompetenz, ein Ausdruck von persönlichen Zweifeln an der eigenen Kompetenz oder gar ein Beleg der Inkompetenz, wenn eine solche explizite Darstellung tatsächlich erfolgt, wenn sich jemand zur eigenen Kompetenz bekennt. »Wäre er wirklich gut, hätte er das gar nicht nötig«, heißt es dann oder: »Wenn der so auftritt, wird er es ja wohl nötig haben.« Je höher der Grad von Selbstdarstellung, so die innere Überzeugung, desto geringer die Kompetenz; je mehr Schein, desto weniger Sein. Diese Pauschalverurteilungen wurden von vielen Rednern und Rednerinnen offenbar tief verinnerlicht und erweisen sich in der Beratungspraxis als die hartnäckigsten Hindernisse auf dem Weg zu wirkungsvolleren und auch unterhaltsameren Redeauftritten deutscher Führungskräfte.
Nachhaltig überwinden lassen sich diese Hindernisse indessen weder durch »Tschaka-Coaching« nach dem Motto: »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt« noch durch andere Konzepte, die das Phänomen der Scham und Schamangst auf eine Einstellung oder Verhaltensform reduzieren, die rein kognitiv zu lenken und zu ändern wäre. Auch hier gilt (leider): Die Seele geht zu Fuß, und jede Veränderung, die von Dauer sein soll, dauert. So kann wohl nur eine Reise zu den jeweils eigenen »Felix Krull«-Schreckbildern, zu ihren Ursprüngen und ihrem tieferen Verstehen den Schlüssel für eine Veränderung liefern. Gewiss, es ist ein mühsamer, aber auch lohnender Weg, denn er kann – unter anderem – die Erkenntnis befördern, dass das höchst unangenehme Gefühl der Scham eine archaische Konstante menschlicher Emotionalität darstellt, die uns bei allem Leiden an ihr doch auch vor Augen führt, wie geltungsmächtig und kraftvoll jene Triebe in uns sind, die von eben dieser Scham im Zaum gehalten werden sollen: der Drang nämlich, uns mitzuteilen und auszudrücken, auf der einen und der Wunsch, bezaubert zu werden, auf der anderen Seite. Denn auch das beschreiben die Sequenzen aus Thomas Manns
Felix Krull ja auf das Präziseste: Ich war »heiß und trunken vor Freude […] Es war einer der schönsten Tage meines Lebens, vielleicht der unbedingt schönste«, heißt es über Felix Krulls Empfindungen nach seinem Auftritt auf der Bühne des Kurorchesters.
Der Psychoanalytiker Leon Wurmser hat für diese Lust am Schauen und Zeigen die Einführung der Begriffe Theatophilie und Delophilie vorgeschlagen. Er definiert:
»Theatophilie (von gr. theasthai = sehen, beobachten, erstaunt und beeindruckt sein, vgl. auch ›Theater‹ und ›Theorie‹) kann definiert werden als das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen, Vereinigung und Meisterung oder Beherrschung durch aufmerksames Sehen zu erzielen. Dieser Wunsch ist von frühester Kindheit an als grundlegender, angeborener Trieb wirksam.
Delophilie (von gr. deloun = zeigen, offenbaren, enthüllen, zur Schau stellen, vgl. z. B. auch ›psychedelisch‹) wird definiert als das Verlangen, sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken, mit dem anderen durch Kommunikation zu verschmelzen. Auch sie hat ihren Ursprung in archaischen Zeiten.« 78
› Hinweis
Wichtig ist dabei besonders der Hinweis auf die archaische Natur dieser von Wurmser als »Triebe« bzw. »Triebkomponenten« verstandenen Regungen. Denn dies bedeutet: Sie sind in jedem Menschen anzutreffen, sie gehören zu seiner Grundausstattung und prägen einen Teil seiner Persönlichkeit. In welcher Weise die beiden Triebe dies tun, hängt stets davon ab, wie sie im Rahmen des individuell-biografischen Schicksals der jeweiligen Person im Verlaufe
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