Das befreite Wort
dargestellt durch den Schauspieler Müller-Rosé, einen Jugendfreund des Vaters.
Die Aufführung und insbesondere die Leistungen Müller-Rosés schlagen das Publikum in ihren Bann: Die »ganze beschattete Versammlung glich einem ungeheuren Schwarme von nächtlichen Insekten, der sich stumm, blind und selig in eine strahlende Flamme stürzt.« 86
› Hinweis
Auch Felix Krull ist hingerissen – von der Darbietung ebenso wie von ihrer Wirkung. Und voller Spannung begleitet er nach der Vorstellung seinen Vater zur Garderobe des zum Operettenstar aufgestiegenen Schulfreundes. Dort kommt es dann zu einer Szene und zu daran anschließenden Reflexionen, die – im Gewand der Erzählkunst – tiefe Erkenntnisse über die seelische Dynamik enthüllen, die sich im Spannungsfeld zwischen Darsteller, Publikum und Gesellschaft ereignet. Die Passage sei hier deshalb nahezu vollständig zitiert:
»Wir traten ein, und ein Anblick von unvergesslicher Widerlichkeit bot sich dem Knaben dar. An einem schmutzigen Tisch und vor einem staubigen und beklecksten Spiegel saß Müller-Rosé, nichts weiter am Leibe als eine Unterhose aus grauem Trikot. Ein Mann in Hemdärmeln bearbeitete des Sängers Rücken, der in Schweiß gebadet schien, mit einem Handtuch […] Die eine Hälfte seines Gesichtes war noch bedeckt mit jener rosigen Schicht, die sein Antlitz vorhin so wächsern idealisch hatte erscheinen lassen, jetzt aber lächerlich rotgelb gegen die käsige Fahlheit der anderen, schon entfärbten Gesichtshälfte abstach. Da er die schön kastanienbraune Perücke mit durchgezogenem Scheitel, die er als Attaché getragen, abgelegt hatte, erkannte ich, dass er rothaarig war. […] Das alles jedoch hätte hingehen mögen, wenn nicht Brust, Schultern, Rücken und Oberarme Müller-Rosés mit Pickeln besät gewesen wären. Es waren abscheuliche Pickel, rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil, und noch heute kann ich mich bei dem Gedanken daran eines Schauders nicht erwehren. […] Ich erinnere mich, dass der Sänger, obgleich doch der begeisterte Beifall des Publikums ihn seines Triumphes hätte müssen versichert haben, unaufhörlich fragte, ob er gefallen, in welchem Grade er gefallen habe – und wie sehr verstand ich seine Unruhe! […] Dies also – so etwa gingen damals meine Gedanken –, dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zu dem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Dieser unappetitliche Erdenwurm ist die wahre Gestalt des seligen Falters, in welchem eben noch tausend betrogene Augen die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit zu erblicken glaubten! Ist er nicht ganz wie eines jener eklen Weichtierchen, die, wenn ihre abendliche Stunde kommt, märchenhaft zu glühen befähigt sind? Die erwachsenen und im üblichen Maße lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm betören ließen, mussten sie nicht wissen, dass sie betrogen wurden? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? Letzteres wäre möglich; denn genau überdacht: wann zeigt der Glühwurm sich in seiner wahren Gestalt, – wenn er als poetischer Funke durch die Sommernacht schwebt, oder wenn er als niedriges, unansehnliches Lebewesen sich auf unserem Handteller krümmt? Hüte Dich, darüber zu entscheiden! Rufe Dir vielmehr das Bild zurück, das Du vorhin zu sehen glaubtest: diesen Riesenschwarm von armen Motten und Mücken, der sich
still und toll in die lockende Flamme stürzte! […] Wieviel Bewunderung gebührt ihm [dem Schauspieler] nicht für das, was ihm heute gelang und offenbar täglich gelingt! Gebiete deinem Ekel und empfinde ganz, dass er es vermochte, sich in dem geheimen Bewusstsein und Gefühl dieser abscheulichen Pickel mit so betörender Selbstgefälligkeit vor der Menge zu bewegen, ja, unterstützt freilich durch Licht und Fett, Musik und Entfernung, diese Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben!
Empfinde noch mehr! […] Frage dich nach den geheimen Ursprüngen des Gefälligkeitszaubers […] Um dir antworten zu können, brauchst du dich nur zu erinnern […] welche unnennbare […] Macht es ist, die den Glühwurm das Leuchten lehrt. Beachte doch, wie der Mensch sich nicht satt hören kann an der Versicherung, dass er gefallen, dass er wahrhaftig über die Maßen gefallen hat! Lediglich der Hang und
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