Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sprong
Vom Netzwerk:
schreibt:
    »Der Kern des Selbst, die tiefsten Gefühle für jemanden oder für einen erhabenen Wert müssen geschützt und gegenüber aller Augen verhüllt werden. Scham ist somit eine Wächterin, die den Kern der Integrität schützt. […] Sie ist ein Schutz, die der tatsächlichen Beschämung zuvorkommen, ihr also vorbeugen soll. […] [Sie] verweist […] auf das Begreifen von sich selbst als jemanden, der all seine Strebungen in ein kontinuierliches Selbst (›Identität‹) integriert und zwar unter der Leitung einer Hierarchie von Werten, die mit einer historischen oder gegenwärtigen Gemeinschaft geteilt werden können.« 82
› Hinweis
    Wer sich also schämt – je bewusster, umso besser –, kann sich freuen, denn die Scham zeigt ihm, was anders meist nur schwer zugänglich ist: jene Momente und inneren Orte, an denen für ihn persönlich bedeutsame Werte und Einstellungen »lagern«. Scham ist ein Indikator für erreichte Grenzen des Gewissens und fordert den Einzelnen auf diese Weise auf, mit Rücksicht auf die Bewahrung der eigenen Integrität Handlungen auszuführen, abzuändern oder zu unterlassen, Dinge auszusprechen oder zu verschweigen. Das heißt: Wo die Scham ist, ist der Weg 83
› Hinweis
 – der Weg zur Bekanntschaft mit dem Kern der eigenen Identität und damit der Weg zu wirklich eigenem, d. h. persönlich wahrhaftigem Ausdruck, der dann zu Recht als »authentisch« bezeichnet werden darf und die Voraussetzung jeder rhetorischen Glaubwürdigkeit ist.

Ein Glühwurm
in zweierlei Gestalt
Was sich ändern müsste III: Die Befreiung vom Missverständnis der Authentizität
    Vom ehemaligen Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, ist der mit deutlichen Anzeichen von Verärgerung ausgerufene Satz überliefert: »Ich bin kein Industrieschauspieler! Ich bin Mehdorn!« Schätzungsweise neun von zehn Führungskräften in Deutschland werden diesen Satz in einer je eigenen Fassung ebenfalls schon mindestens einmal ausgerufen haben – jedenfalls dann, wenn zu ihren Aufgaben auch die Außendarstellung, insbesondere das Reden und Präsentieren zählt. Man fürchtet den Zwang zur »Verstellung«, zum Uneigentlichen, nicht Wahrhaftigen, mit anderen Worten: zur Eitelkeit (siehe das vorhergehende Kapitel).
    Wieder ist hier die antithetische Dualität von Sein und Schein 84
› Hinweis
im Spiel, wobei nun allerdings ein Gegensatzpaar ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, das vor allem in der Diskussion um die öffentliche (Selbst-)Darstellung leitender oder prominenter Persönlichkeiten eine wichtige Rolle spielt: Der Gegensatz von Sein und Schein präsentiert sich in der Form von »Authentizität« versus »Schauspielerei«. Diese Variante ist durch ein zuweilen fast zorniges Beharren auf dem Unverstellten der eigenen Identität gegenüber vermeintlichen Anforderungen, sich gekünstelt zu geben, gekennzeichnet. Und sie wird sehr häufig dann ins Feld geführt, wenn es darum geht, notwendige oder doch geforderte Selbstdarstellungen auf der öffentlichen Bühne abzuwehren. Und damit ist sie eine der am schwierigsten zu durchschauenden »Masken der Scham«.
    Denn was sich so trotzig selbstbewusst gibt, ist in Wahrheit der Versuch, den Anforderungen des professionellen »Theaters«, den Inszenierungen 85
› Hinweis
in Politik, Kultur und Wirtschaft zu entkommen, sich ihnen zu entziehen, um auf diese Weise von vermeintlich beschämenden Auftrittsverpflichtungen verschont zu bleiben. Hinter dieser Abwehrhaltung steckt freilich ein Missverständnis in Bezug auf die Funktionsweise, vor allem aber auf die die Bewertung einer schauspielerischen oder inszenatorischen Leistung. Thomas Mann hat in seinem Roman über den Hochstapler Felix Krull mustergültig dargestellt, welches Urbild von der darstellenden Kunst im deutschen Bürgertum vorherrscht, welche Folgen es für die Bewertung jeglicher Kunst- oder Präsentationstätigkeit nach sich zieht und welche Konsequenzen dies vor allem für Selbstbild, Selbstachtung und Selbstbewusstsein des Bürgers hat.
    In einer Steigerung der bereits zitierten Szene vom Kurpark berichtet Felix Krull nur wenige Seiten später von seinem ersten Theaterbesuch in Wiesbaden. Wiederum in Begleitung seines Vaters wohnt der mittlerweile jugendliche Romanheld, er ist 14 Jahre jung, voller Bewunderung und Entzücken einer Operettenaufführung
bei. In deren Mittelpunkt steht ein »junger Müßiggänger oder Gesandtschaftsattaché, ein bezaubernder Schwerenöter und Schürzenjäger«,

Weitere Kostenlose Bücher