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Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
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fertiggebracht, ihn in geschlossener Anstalt eben diesem Dr. Flechsig auszuliefern, zur Vivisektion gleichsam und Quälerei, wie sie noch keinem Sterblichen zugefügt worden? Nun aber kam das Überraschende, daß es dem Dr. Schreber, Senatspräsidenten zu Dresden, gelungen war, sich durch nichts als den eigenen Scharfsinn, die Logik und Beweiskraft seiner Eingaben und Schriftstücke aus dieser Internierung zu befreien und sogar die Entmündigung aufzuheben, die über ihn bereits verhängt war. Zugegeben, führte er aus, daß seine Auserwählung und sein Kampf mit den Saxonen etwas Einmaliges und Ungewöhnliches waren: rechtfertigte das seine Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt? Machte es ihn unfähig, seinen bürgerlichen Verpflichtungennachzugehen? Wurde er gefährlich dadurch, daß er seine Verwandlung in ein Weib erwartete? Die Verschwörung der Saxonen durfte so weitgehend von den Staatsbehörden nicht unterstützt werden, selbst wenn jene auf den Sternen saßen. Die Freilassung des Dr. Schreber und seine Wiedereinsetzung in die Verwaltung und Handhabung seines Vermögens konnte von ihnen nicht länger verzögert werden. Und damit die Erlösung des bedauerlichen Menschengeschlechts, dem es schon hätte viel besser gehen können.
    Diese völlig absurde, von dem Wiener Professor meisterhaft durchleuchtete Krankengeschichte, vor mehr als dreißig Jahren niedergeschrieben, die einen Fall von offensichtlichem Verfolgungswahn darstellte, wissenschaftlich Paranoia genannt, genauer gesprochen Dementia Paranoides, hatte bei Käte Neumeier zuerst nur ein wissenschaftliches, leicht spöttisch unterkellertes Interesse wachgerufen. Durch welch geistige Verknüpfung ihr bei der Lektüre der Denkwürdigkeiten selbst, um welche der Professor in seinem Vorwort zur Vorrede dringend gebeten, als Parallele die Schrift »Mein Kampf« einfiel und auffiel, hätte sie später nicht mehr anzugeben gewußt. Als der Professor im Jahre 1911 seine Abhandlung verfaßte, war von einem Menschen namens Adolf Hitler außerhalb des Wiener Arbeitslosenasyls noch keine Rede gewesen; und Käte Neumeier wußte nicht einmal, daß diese beiden Zeitgenossen in der Stadt Wien damals gar nicht zu weit auseinander domiziliert hatten. Über die intimen Vorgänge in der Seele Adolf Hitlers wußten nur wenige Leute etwas, und niemand berichtete davon, außer im Flüsterton und gleichsam scheu und geduckt, wie im Schatten einer geschwungenen Geißel. Dennoch war im Verhältnis des deutschen Diktators zum weiblichen Geschlecht alles in Unordnung, und seine Vorliebe für möglichst naturalistisch gemalte weibliche Akte, seine Beschäftigung mit leidenschaftlich geliebten und geheimgehaltenen Filmen, seine prälatenartige, fast mönchische Lebenshaltung machten den Weg höchst verdächtig, auf welchem ihn der Lenker der Welt auserwählt hatte, Erlöser seines Volkes vom Versailler Vertrag und Messias der Deutschen zu werden. Ausschlaggebend für Käte Neumeier war jedenfalls die Parallele zwischender Weltverschwörung der auf den Sternen sitzenden Saxonen und der der Juden, von welcher der beredte Verfasser von »Mein Kampf« ebenso überzeugt war wie Daniel Paul Schreber von der seiner einstigen Mitstudenten, ohne dafür plausiblere Beweise vorbringen zu können. Daß das Judentum zur gleichen Zeit den Kapitalismus wie den Sozialismus auf seine Mitmenschen losließ, daß es imstande war, Paris und Moskau zu dirigieren – heute hätte man Washington gesagt, dachte Frau Käte –, erschien der Leserin genau so absurd wie die Teilung des Geheimrats Flechsig in einen oberen und einen unteren. Schon vor dem Jahre 33 hatte Käte Neumeier gewußt, daß die Juden im ganzen eine ziemlich machtlose, einflußarme Bevölkerungsgruppe waren, auch wenn einzelne ihrer Abkömmlinge in verschiedenen Ländern wichtige Stellen im geistigen, ökonomischen, politischen Leben verwalteten. Sie taten es dann, wie jener arme Rathenau, unter heftiger Ausschließung jeder jüdischen Bindung oder, wie Trotzki, mit einer ausgesprochenen Richtung gegen diese. Nur ein wahnbeherrschter Geist wie der Dr. Schreber konnte aus seinen früheren Kommilitonen Dämonen machen, die auf den Sternen saßen, durch das ganze Weltall hin, nur um ihn, ausgerechnet ihn, hätte man früher gesagt, just ihn, zum Ziel ihrer Bemühungen und Verfolgungen zu machen. Ganz so absurd und wahnhaft muteten die Ärztin jetzt die Seiten an, die sie aus dem Buche »Mein Kampf« zum Vergleich heranholte. Sie besaß

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