Das Beil von Wandsbek
seine siebente Auflage, noch voller Invektiven gegen das deutsche Volk, dem dieser Wälzer das Alte und das Neue Testament ersetzen sollte, die Bibel der Christen und der Juden. Aber es war kein solcher Ersatz. Es war ein neuer Fall »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, nur daß seine Sinnwidrigkeiten und Fehlverbindungen neben scharfsinnigen Bemerkungen standen, die sich mit dem Wesen der Propaganda, der Wirkung der Reklame, der Eigentümlichkeit von Massenreaktionen auf grobe Lügen beschäftigten. Hier zeigte sich jenes Nebeneinander von Wahn und Scharfsinn, welches Daniel Paul Schreber erst in die Anstalt geführt hatte und dann aus ihr hinaus. Der Führer des deutschen Reiches lebte keineswegs in einer geschlossenen Anstalt; aber wäre es nicht besser gewesen, man hätte ihn 1923 hineingetan, statt aufjene bequeme Festung Landsberg, auf welcher er seine Denkwürdigkeit verfassen konnte?
Käte Neumeier war viel zu sehr benommen von ihrer Entdeckung der neuen Gedankenwelt, um sich von der Veränderung Rechenschaft zu geben, die sie bedeutete. Sie hatte das Buch »Mein Kampf« schon vor etwa acht, neun Jahren zum erstenmal vorgenommen, hatte sich mit ihm redlich herumgeschlagen, eine ganze Anzahl Widersprüche gegen ihre damaligen Studentenüberzeugungen festgestellt und sie schließlich in Kauf genommen, weil ein junger Mensch doch an etwas glauben will. Als die Sozialdemokratie in jenen Jahren praktisch vor dem Aufrüstungsbedürfnis des hindenburgischen Reiches die Segel strich, brach für Käte Neumeier nicht nur ihr Parteiprogramm zusammen, sondern die ganze Welt der Jugend, welche Karl Marx und seine Lehre ihr errichtet hatten. Jetzt kam offenbar das Alte wieder herauf, unwiderstehlich und in seiner Tragweite kaum bemerkt. Selbst die Kennzeichen der verschiedenen Druckschriften hatte ihr Friedel Timme beigebracht; aus seinen Übungsbüchern hatte sie sich all die feinen Unterschiede eingeprägt, an denen auch der Laie sie erkannte. Und so auch schien es eher der hingerichtete Mengers, als sie selbst zu sein, der ihr kritisches Denken wieder geweckt hatte und beherrschte. Aber sie merkte es nicht; reifer geworden selber und von dem Gang der Dinge immer tiefer enttäuscht, glaubte sie jetzt erst ganz auf eigenen Füßen zu stehen, mit eigenen Augen zu sehen, mit dem ihr zugewachsenen Verstande zu überlegen. Ereignisvolle Wochen, diese hier! Aber sie verzeichnete kaum, daß die neunzigjährige Greisin nun doch einer Erkältung erlag, ihre krebskranke Patientin in der städtischen Klinik II operiert werden mußte und einer Embolie zum Opfer fiel, einem Blutgerinnsel, das sich einen Weg in die Blutzufuhr des Gehirns bahnte und sie verstopfte, und daß das kleine Fräulein Holzmüller wieder ihrem Beruf als Verkäuferin nachging, als wäre nichts geschehen. Längst waren all die anderen Bücher des toten Mengers nach Fuhlsbüttel hinausgewandert, hatte die Anstaltstischlerei ein schwarzgebeiztes Regal hergestellt, nach Maßen, die es jener Mansarde genau einfügten, hatte Herr Koldewey seine Freude an dem neuen Schatz bezeugt und selbst Annetteihren Widerstand überwunden, um erst ein Buch über die Günderode und dann die Briefe der Liselotte von der Pfalz auf ihren Nachttisch zu übernehmen. Ja, Käte Neumeier hatte es zuwege gebracht, daß Bert Boje beim Auspacken der beiden Kisten geholfen und eine Bekanntschaft mit Annette Koldewey vertieft hatte, die sich verheißungsvoll anließ, zum mindesten für ihn. Für Käte selbst aber war schließlich in der Woche vor Weihnachten die Zeit gereift zu einer erst vorsichtigen, dann sehr freimütigen Unterredung mit dem neuen Besitzer der Bibliothek. Herr Koldewey hatte mit gespanntester Aufmerksamkeit die Andeutungen aufgenommen, mit denen Käte ihn auf die Verknüpfung vorbereitet, die das Buch des wahnbesessenen Herrn Schreber in ihr vollzogen. Erlöser und Verfolgter – wirklich, hier durfte auch ein Skeptiker aufhorchen. Heinrich Koldewey stand, wie so viele seiner Altersgenossen, der naturwissenschaftlichen Denkweise ungeübt gegenüber. Erzogen in den Formen und Überlieferungen der klassischen Bildung, wie sie vorwiegend von Philologen ausgewählt worden, interpretiert und der Jugenderziehung angepaßt, hatte er aus dem Gedankengute des neunzehnten Jahrhunderts eben nur soviel Wissen in sich verpflanzt, als von seinem Meister und Lehrer Nietzsche beigebracht und verwendet wurde, um seine Kulturtheorie zu stützen und zu sättigen. Dieser war nicht umsonst
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