Das Beil von Wandsbek
als Sohn einer Pastorenfamilie, eines Prinzenerziehers groß geworden; sein Haß gegen alles Revolutionäre, seine Verwechslung des Proletarischen mit dem Plebejischen, sein tiefer und echter Aristokratismus, geboren aus seinen verletzlichen, höchst sensiblen Künstlernerven, all das hatte Heinrich Koldewey zu tiefst wohlgetan, und die unerbittliche Sittlichkeit und Strenge von Nietzsches Denkart, die bezaubernde Musik seiner Prosa, geboren aus wahrhaft humanem, für Gesittung und Vergeistigung entbranntem Wesen, hatte ihn schon auf dem Gymnasium eingefangen, wo ihm die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die antike Welt wie ein Scheinwerfer erleuchtete. Welche Erlösung nach den Stunden der Pauker, die imstande gewesen wären, ihm, dem geistesdurstigen Jungen, selbst den Homer zu verekeln, den Thukydides, den großen Plato! Die blaßblauen Bände der Taschenausgabe von FriedrichNietzsches Abhandlungen und Sprüchen verließen ihn im wahren Sinne des Wortes keinen Tag und nährten immer weiter das Licht eines unabhängigen, still für sich brennenden Denkens, das sie in ihm angezündet. Die fortschreitende Vergröberung, Verflachung, Verpöbelung der politischen Welt wurde ihm erträglich, ja willkommen durch Nietzsches Kritik an Bismarck und seiner Schöpfung. Aus allen möglichen Gründen hatte er sich entschlossen, den Anbruch des Dritten Reiches und seine wilde Gassenmelodie nur als die letztmögliche Steigerung und Verrottung des bismarckischen Junkertums hinzunehmen, nach welcher es notwendigerweise wieder aufwärtsgehen mußte, ins Patrizische, ins Soldatisch-Vornehme, Europäisch-Verbindliche – wie, wußte er freilich nicht. Er hatte sich nur immer gesagt, die Undurchsichtigkeit des Lebens, die Überraschungen, die aus ihm schlugen, seien eines seiner charakteristischen und auszeichnenden Merkmale, und es kam darauf an, sich im Hintergrunde, aber wach und wissend zu halten, damit, wenn der Tag eines Umschwungs anbrach, stille und geübte Hände vorhanden seien, um die neue Richtung des deutschen Weges, der europäischen Gangart mitzubestimmen. Auflehnungen schienen ihm billig und so kurzsichtig wie Professorenbrillen. Was war aus all dem geistigen Gebrodel nach 1918 herausgekommen? Weder Gustav Landauer noch Oswald Spengler hatten etwas Nachhaltiges bewirkt, von all den anderen Essayisten zu schweigen, deren tiefe, farbig geschriebene Aufsätze ihm die Monatsschriften ins Haus brachten, die er regelmäßig bezog. Die umstürzenden Entdeckungen, von denen in Mathematik und Physik immer heftiger die Rede war, verstand er nicht, und er lehnte es ab, sie zu verstehen. Waren Planck und Einstein Genies, wie ihre Anhänger behaupteten, so konnte er, Heinrich Koldewey, warten, bis jemand kam, ihm dies ins Glaubhafte zu übersetzen. Es mußte nicht jeder etwas von allem verstehen. Er baute seinen Kohl, mit Voltaire zu sprechen, erfüllte die Pflichten seines Amtes und war zu alt, um von sich noch Eingriff ins öffentliche Leben zu erwarten oder zu verlangen. Von den Schriften des Herrn Freud hatte er vernommen, diesen und jenen Aufsatz gegen sie gelesen, im ganzen aber keine Lust verspürt, sich mit ihnen zu befassen. Ein naturwissenschaftlichesGenie der Seelenkunde? Männern wie Heinrich Koldewey genügte der Psycholog Friedrich Nietzsche für dieses und jedes noch etwa mögliche andere Leben.
»Daß mir die Adventszeit noch einmal ein solches Geschenk machen werde, habe ich mir auch nie geträumt«, sagte er dankbar, wenn sie zu dritt in seinem Arbeits- oder Herrenzimmer saßen und sich die Köpfe heiß gestritten hatten. Käte Neumeier nämlich hatte mit ihrer schüchtern vorgetragenen Entdeckung bei Heinrich Koldewey gleichsam einen Nerv berührt, ihn so emporfahren lassen, daß sein ganzes Lebensgebäude dabei einstürzte. Mußte er dazu seine hanseatische Reserve dem Dritten Reiche gegenüber volle fünf Jahre durchführen, damit an der Schwelle des sechsten eine Frau auftrete und ihm das ganze Gebäude anriß? War Sinn und Verstand in der Vermutung, jemand werde einen Mann, dem so ausgesprochen pathologische Züge nachzuweisen waren, an die Spitze des Deutschen Reiches stellen? Und war das allgemeine Denken der Nachkriegszeit, obwohl es zu allen Exzentrizitäten neigte, so jeder politischen Physik bar gewesen, daß man einen Scharlatan, einen Wahnbesessenen, einen partiell Irren, nicht durchschaute, sondern ihn walten ließ, bis er eine kunstvoll ausbalancierte Republik zu stürzen vermochte?
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