Das Beil von Wandsbek
nicht nur in Deutschland. Da man nun den Weg zum Loswerden des störenden Einflusses geebnet und gebahnt, konnten Teetjens sich leichteren Herzens auf die Fahrräder schwingen und weit über Moorburg hinaus zu Stines Schwester fahren, die an einen Bootbauer und Zimmermann verheiratet war, rund um ihr Friesenhaus aber Kartoffeln und Gemüse genug zog, um das magere Einkommen auszugleichen. Das Wetter zeigte weiterhin einen mißmutigen Charakter, Nebelschwaden und Regenschauer strichen über die Ausflügler hin, aber Stine fühlte sich so glücklich, der Wagnerstraße entronnen zu sein, daß sie ihren Albert mit Fröhlichkeit ansteckte. Die Erlen hingen voll traubenartiger Kätzchen, an den roten Weidenzweigen saßen sie schon silbern, und scheute man sich nicht vor dem klatschnassen Moos und schlug sich seitwärts in die Büsche, so ließen sich bescheidene Veilchen entdecken, man brauchte nur ihrem Dufte nachzugehen, und die kleinen, fliederfarbenen Kelche des Seidelbaststrauchs, die sich so keck ohne den Schutz von Blättern in der Nachbarschaft der Brombeerdornen hervorwagten und wie Hyazinthen rochen, warteten offenbar darauf, daß Stine sie brach. Mit einem Strauß, der den ganzen Vorfrühling enthielt, klopften sie bei ihrer Schwester an, schüttelten die Nebelschwaden von den Mänteln in der schlauchartigen Diele zwischen den Zimmern, weißgescheuert, wie immer, wurden willkommen geheißen, waren mit Sicherheit erwartet worden, brachten den Kindern bunte Tabaksbüchsen mit, die Albert von früher her gesammelt, und feierten einen friedlichen, drucklosenSonntag und Montag in einer Landschaft, die sie beide an ihre Kindheit erinnerte; sie endete erst vor den Fenstern des Schlafzimmers und erfüllte mit Lachen, wasserstreifigen Dorfstraßen und ausgelegten Gehbohlen den Raum bis hin zum Krug, zur Kirche, zum Friedhof mit einer Gedächtnistafel für die achtzig im Weltkrieg fürs Vaterland gebliebenen Matrosen und Soldaten. Solch ein weiter Himmel von morgens bis abends! Und wie die Wolken über dem blassen Licht nach Westen ritten oder nach Norden. Stine saß mit Wehmut auf der Pritsche, die der Schwager aufgestellt, nahm eine Laufmasche auf, die ihren braunen Strumpf verunzierte, und fragte sich, warum denn eigentlich die Menschen in die Städte strebten. Hier draußen zu leben wäre doch viel gesünder gewesen, leichter, angstloser. Ob einer Torf stach oder in den sandigen Strichen Kartoffeln und Kirschen zog, einem Mann wie Albert hätte beides gelohnt. Und dabei drängte alles nach den Städten, wo die Leute Wand an Wand wohnten, kopfüber, kopfunter, übern Hof und unter der Straße im Tiefparterre. Es mußte schon was sein, was sie zog und trieb, was Starkes, Unbarmherziges. Nicht bloß Kino, Epa-Geschäft, Straßenbahn und Fährdampfer. Was, wußte sie nicht und doch: es hatte ja auch sie eingefangen, auch sie wohnte ja nicht hier im Dorf zwischen Feldern und freiem Himmel, sondern in Wandsbek, Groß-Hamburg, der feindseligen Wagnerstraße. Da konnte man eben nichts machen, der Mensch ließ sich nicht umkneten, wie der arme Pastor Langhammer immer gesagt. Es hieß, daß er gestürzt war und einen Schädelbruch davongetragen – so Tom Barfey, als sie hinaufkam, sich für die Einladung zu bedanken. Nein, aber der Tom ward wirklich zu frech. Den piekte der Frühling. Was er immer wieder von ihr verlangte!
Als sie am Montagnachmittag aufbrachen, fühlten sie sich gekräftigt wie seit langem nicht, wenn sie auch hart genug schliefen. Sie hatten gut daran getan, die letzten gepökelten Schweinsrippen mitzubringen, daheim hätten sie sie allein aufessen müssen, wie die Dinge jetzt standen, und daß sie die Räder noch besaßen! Albert nannte es einen unverantwortlichen Luxus, wenn es ihm nicht gelang, das Affentheater der heimlichen Roten abzubauen oder zu bannen, dann mußten sie sie noch vor Pfingsten verkaufen,ihre schönen Räder. Die Freude hatte nicht lange gewährt; sie würden daran verlieren und danach wieder an die Eisenbahn gebunden sein, an überfüllte Ausflüglerwagen, an Heimfahrten voll Krakeel und weinenden Kindern. Leute, die nur ihren eigenen Tabakrauch liebten, nicht aber fremden, durften eben nicht herunterkommen.
Beim Abschied fiel Stine ihrer Schwester Else um den Hals und schluchzte zweimal, dreimal laut auf. Es war ihr, als werde sie sie nie wiedersehen. Warum, wußte sie nicht, aber sie hatte nie so stark gefühlt, daß sie mit dieser Frau innerlich verbunden blieb, auch wenn sie
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