Das Beil von Wandsbek
schlafende Stadt. Das Licht schien weißlichgrau von einem weißgrauen Himmel zu fallen; in eine ebenso verschwiegene und entfärbte Welt glitten sie hinein, nur daß Fahnen an gewissen Stellen der Stadt große Patzen blutigen Rots an die Mauern hängten. Fernher drang Trommeln und Pfeifen – ungewiß ob Hitlerjugend oder schon Soldaten zum Morgenruf aufspielten. Den Ohlsdorfer Friedhof betraten sie durch einen der östlichen Eingänge, benützten ihre Räder auf den breiten Straßen innerhalb der ungeheuren Anlage und ließen sie angekettet erst stehen, als sie sich in der Nähe der Verluststätte glaubten. Die Wacholderbüsche, die Hecken, Weiden und Sträucher schienen sich nur zögernd aus der Morgenstille, dem Frühnebel, zu lösen und wichen mit ihrem entfärbten oder schwärzlichen Grün vor den Eindringlingen zurück. »Hier muß es bald sein«, sagte Albert. »Dort drüben der Wacholder, um den könnten die ...« Das Wort blieb ihm im Munde, so jäh griff Stine nach seinem Arm, die Töpfe mit den Blumenzwiebeln hatte er sagen wollen. Statt dessen zückte er seine Wünschelrute wie eine Waffe. »Hörst nichts, siehst nichts?« fragte Stine tonlos. »Da ist eine weiße Frau vorübergeschwebt.« Albert legte die Hand mit der Rute über seine Augen, um zwischen den Gräbern hinzuspähen. »Es hat geseufzt«, zitterte Stine, »sie will das Beil nicht auf ihrem Hügel haben.« – »Unsinn«, rief Albert, »dann geh ich allein.« Aber sie ließ ihn nicht von sich, und wirklich glaubte jetzt auch er, zwischen den Grabstätten eine Gestalt weggleiten zu sehen in einem weißen Hemd und blondhaarig, ein schmerzverzogenes Gesicht, die Hand auf die Seite gepreßt. »Soll sich nicht so haben«, knirschte Albert zwischen den Zähnen, »müssen alle in so manch saueren Apfel beißen.« Da war das Grab, da steckte das Beil, da lag die Taschenuhr.Aber als er sich gebückt hatte und wieder aufsah, ragten nicht mehr fünf Wacholderbüsche um ihn herum, in einer Art Halbkreis, vier, fünf Meter von ihm entfernt, sondern groß und schwarz standen da fünf geköpfte Männer, rund um das Beil, hielten ihre Köpfe bei den Ohren in der Höhe ihrer Lenden, und ihre grinsenden Gesichter schauten das Beil an oder diese Grabstätte, neben welcher Albert und Stine sich aneinander festhielten. »Sind die verfluchten Wacholderbüsche, Deern«, zischte Albert, aber seine Zähne klapperten. »O nein, o nein«, schluchzte Stine und sank auf den nächsten Hügel hin, halb sitzend, halb liegend, »die kommen uns holen, jetzt ist’s aus.« – »Drei Schritt vom Leibe«, schrie Albert und schlug mit der Gerte ins Graue, Diesige, hakte dann Stine den Mantel auf, das Kleid, rieb ihr Stirn und Schläfen und redete auf sie ein, doch verständig zu sein, sich zusammenzunehmen. Sie wollten gleich weg, versprach er ihr, und es wäre schon heller. Und wirklich, als er sich aufrichtete und um sich blickte, hatte der Wind, eine vom Westen her anwehende Luft, einer blaßbleichen Morgensonne zum Durchbruch verholfen; halbhoch, strahlenlos wie ein Mond, hing sie im Weißen. »Sind sie weg?« fragte Stine, die Augen noch geschlossen. »Hier stehen bloß Wacholderbüsche«, beruhigte er sie. »Die gehen da drüben mit den Trommeln und Pfeifen.« – »Und wer war der fünfte?« fragte Stine, noch immer zitternd in seinen Armen, die Augen geschlossen. »Das war doch der Itzig von dem ollen Ruckstuhl«, entfuhr es ihm, »so’n grinsender Jude.« – »Auch wirklich weg?« – »Sei brav«, sagte er, »steh auf, da drüben marschieren sie, die große Straße hinunter auf den Teich zu, sieht gar nicht mehr aus wie der Ohlsdorfersee – ganz wie das Njemen-Ufer, hol mich dieser und jener.« Sie richtete sich auf, wirklich, das hier waren Wacholder, aber dort vorn wehten fünf schwarze Gestalten, viel größer als Menschen – die sind im Grabe gewachsen, dachte sie, und was zog da hinter ihnen her, indes von fernher Trommeln und Pfeifen brodelten und schwirrten? »Ein Heerwurm«, staunte er, »machen die Frühjahrsmanöver am 1. Mai?«
Die lange Straße herunter bewegte sich ein Zug: Infanterie, feldmarschmäßig ausgerüstet, die Gewehre geschultert neben den Stahlhelmen, feldgrau, dunkelgrau, in Deckungsfarben bemalt.Große, scheckige Tanks rollten zwischen ihnen her, zur Rechten und Linken sausten Motorradfahrer an den Kolonnen entlang, aufrecht in Automobilen standen Befehlshaber und deuteten voraus, immer auf den See zu, und jetzt orgelten aus dem Nebel
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