Das Beil von Wandsbek
Lene Prestow besonders gehört hatte. Eigentlich hatte sie gehofft, ihre letzte Augustvisite mit dem Krebsessen bei Koldeweys zu vereinigen. Aber das hatte nicht geklappt, eine Fischvergiftung in ihrer nächsten Nachbarschaft, die eine ganze Familie zu dezimieren drohte, hatte sie damals und die Tage darauf arg eingespannt. So vergingen Tage, bis sie den weiten Weg nach Fuhlsbüttel in ihrem Stundenplan unterbringen konnte. Und so traf sie der Werkmeister Prestow im Geschäftszimmer, als er sich erkundigen kam, wo auf dem Ohlsdorfer Friedhof das Grab seiner Lene zu finden sei, und ihre Habseligkeiten abzuholen, mit denen sie ihre Strafe angetreten hatte: Kleider, Wäsche und etwas Schmuck, besonders die wertvolle Taschenuhr, Geschenk eines Matrosen, der im spanischen Bürgerkrieg mitgekämpft und Beute gemacht hatte, natürlich auf seiten des Generals Franco. Daß Lene zu denen gehören würde, die der Herbst einsammelt, war Käte Neumeier nicht verborgen geblieben; sie hatte versucht, ihrer Lunge Besserung zu verschaffen, indem sie sie in der Küche beschäftigte und dort so viel als möglich rohe Kost knabbern ließ: Kohlrabi, Karotten,Äpfel. Daß es nicht viel helfen würde, wußte sie wohl, hier hätten konzentrierteste Säfte aus solchen Gewächsen und die völlige Entziehung von Kochsalz notgetan, aber, wie vielleicht schon zitiert, eine Strafanstalt war ja kein Sanatorium, und so war es Käte Neumeier, die ja ärztlich hier gar nichts zu suchen hatte, nicht gelungen, die interessante und tüchtige Person wenigstens über den Winter zu retten. In diesem Sinne sprach sie ihrem Vater zu, der der Lene offenbar seine feine und besondere Natur vererbt hatte und diese Unterhaltung in der Geschäftsstelle des Gefängnisses wahrscheinlich unpassend fand. Aber Lene hatte ja nun keine Zelle mehr und auch kein Bett im vergitterten Krankensaal, und für die paar Minuten das Besuchszimmer aufzusuchen, lohnte wohl kaum. Es waren ja nur zwei Punkte noch zu erledigen. Erstens hatte die Lene ihr Sittenbuch dem Strafgefangenen Mengers aus dem Reeperbahnprozeß zugedacht; das behielt nun die Polizei, aber erfahren sollte er es, daß sie ihm ein kleines Andenken hatte vermachen wollen. Und zweitens war da auch eine Botschaft von ihr für Frau Doktor: daß sie nämlich zu jedem Punkt ihrer Aussage stände noch auf dem Totenbett, als hätte sie unter Eid geredet. Weiter hatte er hier nichts mehr zu suchen, und er empfahl sich, für alles Freundliche dankend, das seine Lene von ihr empfangen hatte. Aber sie standen ja nun einmal in verschiedenen Lagern, und es war ja wohl nicht in Ordnung, daß seine Lene auf diese Art eigentlich zu hart bestraft worden war. Damit setzte er seine Mütze wieder auf das schüttere weiße Haar, empfing auf einem Zettel Ortsangaben für den Ohlsdorfer Friedhof, preßte sein Paket unter den Ellbogen, umfaßte mit einem beredten Blick den ganzen bürokratischen Raum, wünschte dem Führer Hitler Heil und verschwand. Käte Neumeier, während sie Formalitäten erledigte, blieb ein paar Minuten beeindruckt von Herrn Prestow, der einst Genosse Prestow gewesen wäre, nun aber kein PG. war, blieb an dem Worte Reeperbahnprozeß hängen und suchte in ihrem Gedächtnis nach jenen Aussagen, deren Glaubhaftigkeit stark bezweifelt worden war, die die Lene jetzt auf dem Totenbett bekräftigt haben wollte. All das lag so weit zurück. Die Aufregung, das Interesse, die Bedeutung waren längst abgeflaut – nur eine so eng mit einerAngelegenheit Verflochtene konnte meinen, man wisse noch, was sie damals ausgesagt hatte. Als sie ihren Rundgang, heute oberflächlicher als sonst, beendete, fragte sie telephonisch nach Annette Koldewey und ihrem Vater. Annette machte einen Teebesuch in der Stadt, aber Herr Koldewey freute sich, seinerseits Frau Dr. Neumeier eine Tasse Tee anbieten und ihre Fragen beantworten zu können. So ging sie denn hinüber. Es war gegen sechs, und die Dämmerung sank mit leichtem Nebel über die Wipfel, den weiten Himmel.
Ein Teewagen, an das Ledersofa des Herrenzimmers herangerückt, aus Glas, Messing und schwarzem Holz, veränderte es, ohne es zu entstellen. Herr Koldewey, etwas müde von der klimatischen Umstellung und dem zu drei Vierteln abgelaufenen Tage, freute sich seines goldroten Getränkes, das der Chinaimporteur Mathiesen auf einem eigenen Teefeld erntete und kiloweise an seine Kunden verkaufte. Außerdem aber erfrischte ihn das Wiedersehen mit Annettes Freundin, die er von all ihrem
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