Das Beil von Wandsbek
Umgang eigentlich am meisten mochte. Als sie ihn jetzt nach den näheren Umständen des Reeperbahnprozesses ausholen wollte, winkte er zunächst ab. Er wollte sich über seine Kleine mit ihr unterhalten. So, Lene Prestow war gestorben? Ach ja, er hatte es im Rapport zur Kenntnis genommen. Was sie damals ausgesagt, um den Timme und die übrigen zu entlasten? Er wußte es nicht mehr. Aber es war unschwer festzustellen. Er besaß eine Denkschrift über den ganzen Fall, von der Justizbehörde in Altona für den Senat veranlaßt und offenbar von einem fähigen Kopfe – die konnte er ihr mitgeben, wenn ihr damit gedient war. Kein geheimes Schriftstück, wenn auch nicht dazu bestimmt, in ihrem Wartezimmer umherzuliegen; aber sie als Privatperson und zu treuen Händen mochte es immer auf ein paar Tage mitnehmen. Damit öffnete er die unteren Flügeltüren seines Bücherschrankes und entnahm breiten und flachen Schubladen, eigentlich für Mappenwerke und Atlanten gedacht, eine Anzahl Schriftstücke, Heft für Heft pedantisch in Umschläge geheftet und mit Titelschildern versehen, sogenannten Etikettes. »Reeperbahnprozeß« las er vor, »1934 bis 1937«, blätterte in den von blauen Aktendeckeln zusammengehaltenen, mit der Schreibmaschine geschriebenen undvervielfältigten Seiten, lächelte vor sich hin und sagte, indem er das Ganze wieder in einen großen Briefumschlag steckte, ein Aktenkuvert: »Ich habe da zwei Beilagen hinzuheften lassen, die machen das Ausderhandgeben eines solchen Schriftstücks noch bedenklicher. Mir tut die Gestapo nichts, wenn sie sie bei mir findet, ich bin ja fast selbst die Gestapo. Verleihen aber – lieber nicht betroffen werden. Mit einem Eckchen also gebe ich mich hierdurch in Ihre Hände. Wie sagt doch Goebbels? Gefährlich leben.« Käte Neumeier brach unwillkürlich in Gelächter aus, so spitzbübisch klang es, wenn ein Mann von Koldeweys Format den kleinen Propagandaminister zitierte, der ja wirklich unter geistigen Menschen nicht zu den Leuchten zählte. »Übermorgen bringe ich sie wieder. Da möchte ich bei Annchen nachholen, was ich heute versäumte. Bitten Sie sie, mich anzuläuten und womöglich abzuholen. Es ist ja fast ein Tagesausflug mit unserer guten Hochbahn. Na, diesmal hab ich was zu lesen.«
Manchmal ereignet es sich, daß Menschen in eine neue Epoche ihres gesamten Daseins fahren, während sie nur glauben, nach Hause zurückzukehren. Käte Neumeier saß in der Mitte eines leeren Abteils, unterhalb der Lampe, vertiefte sich in den Reeperbahnprozeß und merkte zunächst gar nicht, wie sie sich in ihre eigene Vergangenheit verlor, in die Jugend, jenes letzte Jahrzehnt, das doch eigentlich abgetan war, verdunstet, begraben. Beinahe hätte sie versäumt, in Eppendorf den Zug zu wechseln; als sie ihn verließ, eilte sie nicht, wie sonst, mit ihren kräftigen Schritten durch vertraute Straßenzüge, sondern winkte einem Taxi, um baldigst weiterzulesen. Der Friedrich Timme! Mit dem Schlagwort Reeperbahnprozeß hatten die Zeitungen alle Tatsachen zugedeckt, die an lebendige Menschen erinnerten, an wirklich gelebtes Leben. Wäre sie nur im Jahre vierunddreißig, als all das begann, nicht so töricht engagiert gewesen, verknallt über beide Ohren in den Mann ihres Lebens, und also eher geneigt, zu vergessen, als sich zu erinnern, der Gegenwart zu leben, als irgendeiner Vergangenheit. Ja, aufgeregt und stark gelebt hatte sie damals; sie hatte die Enttäuschung kommen sehen, die das Ganze schließlich für sie wurde, als Karl August sich von Hamburg weg und in den Konsulardienst versetzen ließ, nach BuenosAires, einer hübschen Dolmetscherin des Spanischen folgend; sie hatte sich zum Trost in Arbeit gestürzt und an der Tagesgeschichte nur obenhin teilgenommen. Reeperbahnprozeß? Gott ja, Reeperbahn hieß die Hauptstraße in St. Pauli. Sie lief parallel zu den Landungsbrücken und verlängerte sich nach Altona. Aus dieser Lage ergaben sich Dirnen, Seeleute, Vergnügungslokale, Krach und Streit – für einen Hamburger nichts Neues. Jede Großstadt besitzt solche Viertel, denen die Polizeistreifen beständig Aufmerksamkeit zuwenden. Im Sommer vierunddreißig, um den dreißigsten Juni herum, lag Hochverrat in der Luft, erneuter Umsturz, Aufbruch der SA. gegen Großkapital und feine Leute. Zwar sammelte sich das Scheinwerferlicht der Welt damals auf München, wo der Führer selbst die Ordnung wieder herstellte, wie es hieß. Allerdings war auch da schon die Reichswehr in Sicht getreten,
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