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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Könige und Päpste saßen, früher als ihnen lieb war, hier bei mir im Boot. Ich lasse sie schreien und toben; denn sie können mir nichts tun. Am Ende werden alle ganz still. Wenn ihr also nicht wisst, ob ihr tot seid oder nicht, und wenn das kleine Mädchen Stein und Bein schwört, sie werde zu den Lebenden zurückkehren, dann möchte ich ihr nicht widersprechen. Was ihr seid, werdet ihr früh genug erfahren.«
    Die ganze Zeit über war der Alte gleichmäßig rudernd das Ufer entlanggefahren. Nun aber zog er die Ruder ein und verstaute sie im Boot. Mit der Rechten griff er nach dem ersten Pfahl, der aus dem See ragte.
    Er legte an der schmalen Kaimauer an und brachte den Kahn zum Halten. Lyra wollte nicht aussteigen: Solange sie im Boot war, konnte sich Pantalaimon an sie erinnern, denn so hatte er sie zuletzt gesehen, aber sobald sie das Schiff verließ, konnte er sich kein richtiges Bild mehr von ihr machen. Lyra zögerte, doch die Libellen flogen los, und Will stieg aus, wenn auch blass und mit einer Hand an der Brust. Also musste auch sie gehen.
    Sie bedankte sich beim Fährmann. »Wenn Sie bei der Rückkehr meinen Dæmon sehen, sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn mehr als alles andere in der Welt der Lebenden und der Toten liebe und dass ich schwöre, zu ihm zurückzukehren, auch wenn das bisher noch keiner geschafft hat. Das schwöre ich.«
    »Ja, das richte ich ihm aus«, versprach der Alte. Dann stieß er mit dem Boot ab und das Geräusch seines regelmäßigen Ruderschlags verhallte im Nebel.
    Die Gallivespier waren ein Stück weit vorausgeflogen, kehr ten nun zurück und setzten sich auf die Schultern der Kinder, sie auf Lyras, er auf Wills. Nun standen die Reisenden also vor dem Land der Toten. Vor ihnen war nichts als Nebel, obgleich sie an dunkleren Partien erkennen konnten, dass sich vor ihnen eine große Mauer erheben musste. Lyra zitterte. Sie hatte das Gefühl, als bestünde ihre Haut nur noch aus hauchfeiner Spitze, durch die kalte und feuchte Luft zog. An der Stelle, wo ihr sonst Pantalaimon an der Brust gelegen hatte, spürte sie eine eisige Kälte. Doch auch Roger musste sich so gefühlt haben, dachte sie, als er nach dem vergeblichen Versuch, sich an ihrer Hand festzuhalten, den Berg hinabgestürzt war.
    Sie blieben stehen und lauschten. Außer dass es ununterbrochen von den Blättern tropfte, war nichts zu hören. Als sie nach oben schauten, fielen ihnen ein paar kalte Wassertropfen auf die Wangen.
    »Hier können wir nicht bleiben«, sagte Lyra.
    Sich aneinander haltend, verließen sie die Kaimauer und gingen auf die Mauer zu. Gewaltige, grün bemooste Steinblöcke ragten höher in den Nebel, als sie sehen konnten. Je näher die Reisenden kamen, desto deutlicher hörten sie Schreie hinter der Mauer, wenngleich sie nicht sagen konnten, ob es menschliche oder tierische Laute waren: Schrilles Kreischen und Klagen drang heran, das sich wie die Fasern einer Qualle durch die Luft zog und bei jeder Berührung schrecklich brannte. »Da, eine Tür«, rief Will mit heiserer, angeschlagener Stimme.
    Eine verwitterte hölzerne Nebentür unter einem steinernen Türsturz tauchte vor ihnen auf. Ehe Will die Hand auf die Klinke legen konnte, gellte ihnen einer jener schrillen Schreie aus nächster Nähe an die Ohren und erschreckte sie fürchterlich.
    Sogleich starteten die Gallivespier mit ihren Libellen, die wie Schlachtrösser den Kampf witterten. Doch der Gegner, der sie im Sturzflug angriff, fegte sie mit einem brutalen Schlag seiner Flügel beiseite und setzte sich dann auf ein Gesims gerade über den Köpfen der Kinder. Tialys und Salmakia fassten sich wieder und beruhigten ihre aufgeregten Flugtiere.
    Über ihnen hockte ein Vogel von der Größe eines Geiers, aber mit dem Gesicht und den Brüsten einer Frau. Will kannte Abbildungen solcher Mischwesen, und als er genauer hinsah, fiel ihm das Wort Harpyie ein. Ihr Gesicht war glatt und faltenlos, aber älter als selbst das der Hexen. Grausamkeit und Not hatten in den Tausenden von Jahren, die sie schon lebte, grenzenlosen Hass in ihre Züge eingegraben. Je genauer die Reisenden die Harpyie betrachteten, desto abstoßender wirkte sie. Ihre Augenhöhlen waren mit Schleim verklebt und das Rot ihrer Lippen erschien so dick aufgetragen, als ob sie wieder und wieder altes Blut gespien hätte. Stumpfes, verklebtes Haar hing ihr bis auf die Schultern, die Krallen waren fest in den Stein gebohrt, die kräftigen und dunklen Schwingen im Rücken gefaltet, aber

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