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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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du dann dafür?«
    »Dann solltest du uns durch diese Tür lassen, damit wir den Geist suchen können, wegen dem wir die ganze Reise auf uns genommen haben. Wenn du so freundlich wärst.«
    »Versuche es einmal«, forderte Niemand sie auf.
    Und durch Angst und Qual hindurch ahnte Lyra, dass sie gerade ihr Trumpfass ausgespielt hatte.
    »Oh, sei vorsichtig«, flüsterte Salmakia, doch Lyra eilte im Geist schon durch die Geschichte, die sie in der vergangenen Nacht erzählt hatte, stellte hier etwas um, improvisierte dort etwas hinzu, strich dieses und ergänzte jenes: Eltern tot, Familienschatz, Schiffbruch, Flucht ...
    »Also«, sagte sie und versuchte sich in Erzählstimmung zu bringen, »alles begann, als ich noch ein Baby war. Mein Vater und meine Mutter, der Herzog und die Herzogin von Abingdon, waren unvorstellbar reich. Mein Vater gehörte zu den Ratgebern des Königs, und so hatte er den König oft zu seinem Gast. Sie gingen dann in unseren Wäldern auf die Jagd. Unser Schloss war das größte in ganz Südengland. Es hieß ... «
    Die Harpyie stürzte sich ohne Warnschrei und mit ausgestreckten Krallen auf Lyra. Das Mädchen konnte sich gerade noch ducken, dennoch streifte eine Kralle seine Kopfhaut und riss ein Büschel Haare aus.
    »Lügen! Lügen!«, schrie ihr die Harpyie entgegen.
    Sie flog einen Bogen und zielte dann direkt auf Lyras Gesicht. Will zog sein Messer und stellte sich vor seine Freundin. Niemand wich dem Messer im letzten Augenblick aus. Dann schleppte Will die völlig verstörte und vom herunterrinnenden Blut halb blinde Lyra bis zur Tür. Die Gallivespier waren plötzlich verschwunden. Schon stürzte sich die Harpyie erneut mit hasserfülltem Geschrei auf Lyra. »Lügen! Lügen!«
    Ihre Stimme schien von überallher gleichzeitig zu ertönen. Der Schrei prallte als gedämpftes und verzerrtes Echo von der Mauer zurück, so dass das Wort »Lügen« und der Name Lyra wie ein und dasselbe klangen.
    Will hielt das Mädchen an sich gepresst und schützte es mit vorgebeugter Schulter. Deutlich spürte er, wie seine Freundin zitterte und schluchzte. Dann stieß der Junge das Messer in das verwitterte Holz der Tür und schnitt im Handumdrehen das Schloss heraus.
    Mehr stolpernd als gehend gelangten er und Lyra ins Reich der Geister, und mit ihnen die beiden kleinen Spione, die plötzlich wieder mit ihren Libellen aufgetaucht waren.
    Hinter sich hörten sie die Schreie der Harpyie, auf die immer neue Schreckensvögel vom nebelverhangenen Ufer antworteten.

Die Flüsterer
     
     

    Will setzte Lyra erst einmal hin. Dann zog er die Dose mit der Blutmossalbe aus der Tasche und untersuchte die Wunde an Lyras Kopf. Zwar blutete die stark, war aber nicht tief. Der Junge riss ein Stück von seinem Hemd ab, wischte damit die Wunde ab und strich etwas Salbe hinein. Dabei bemühte er sich, möglichst nicht an die ekelhafte Kralle zu denken, die die Wunde gerissen hatte.
    Lyra hatte glasige Augen und war aschgrau im Gesicht.
    »Lyra! Lyra!«, rief er und rüttelte sie sanft. »Komm, wir müssen weiter.«
    Sie schüttelte sich und atmete einmal tie f durch, während sie ihn verzweifelt anschaute.
    »Will - ich kann es nicht mehr - ich kann nicht mehr lü gen! Dabei dachte ich, es sei so einfach - aber es hat nicht ge klappt - das Einzige, was ich wirklich immer konnte - und jetzt glaubt mir keiner mehr!« »Du kannst noch vieles andere. Du kannst zum Beispiel das Alethiometer lesen. Komm, schauen wir mal, wo wir hier sind. Und dann suchen wir Roger.«
    Er half ihr wieder auf die Beine, und dann sahen sie sich zum ersten Mal im Land der Geister um.
    Sie befanden sich auf einer weiten Ebene, die sich im Nebel verlor. Die ganze Welt war in ein fahles Licht getaucht, in einen trüben Schein, der sich überall gleichmäßig verteilte, so dass hier weder richtige Schatten noch wirkliches Licht existierten. Alles hatte die gleiche schmutzige Farbe.
    Ringsum waren Erwachsene und Kinder - Geister -, soweit das Auge reichte. Die meisten standen, einige saßen auch oder lagen teilnahmslos oder schlafend auf dem Boden. Keiner bewegte sich, lief oder tollte umher, wenngleich viele mit angstvoller Neugier zu den Neuankömmlingen blickten.
    »Geister«, flüsterte Lyra. »Hier sind alle versammelt, die jemals gestorben sind ... «
    Gewiss lag es daran, dass sie nun Pantalaimon nicht mehr hatte, aber sie hielt sich an Wills Arm fest, und das freute ihn. Die Gallivespier waren vorausgeflogen und kreisten auf ihren leuchtenden

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