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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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schon!«
    Beide hatten das merkwürdige Gefühl, als ob ihnen kleine Geisterhände in die Rippen griffen, um sie zum Mitgehen zu bewegen. So zogen sie über die weite, trostlose Ebene, begleitet von den Harpyien, die schreiend über ihren Köpfen kreisten, aber doch Abstand wahrten. Die Gallivespier flogen hoch über ihnen und hielten Ausschau.
    Unterwegs sprachen die Geister mit ihnen. »Verzeihung«, sagte ein Geistermädchen, »aber wo sind denn eure Dæmonen? Vielleicht geht mich das ja nichts an, aber ... «
    Lyra hatte keine Sekunde lang vergessen, dass sie ihren geliebten Pantalaimon am anderen Ufer zurückgelassen hatte. Sie konnte nur schwer darüber reden, daher antwortete Will an ihrer Stelle.
    »Wir haben unsere Dæmonen draußen gelassen«, erklärte er, »wo sie in Sicherheit sind. Später holen wir sie wieder ab. Hattest du einen Dæmon?«
    »Ja«, sagte das Mädchen mit dem Namen Beth. »Er hieß Sandling ... oh, ich liebte ihn über alles ... «
    »Hatte er schon eine feste Gestalt?«, fragte Lyra.
    »Nein, noch nicht. Er dachte immer, er würde später einmal ein Vogel, aber das war nicht mein Wunsch, weil ich ihn lieber mit einem kuscheligen Fell mochte, besonders abends im Bett. Aber sein Vogelcharakter wurde immer deutlicher. Wie heißt denn dein Dæmon?« Lyra sagte es ihr, und andere Geister drängten sich nun ebenfalls vor. Alle wollten von ihren Dæmonen reden.
    »Meiner hieß Matapan -«
    »Wir spielten immer Verstecken miteinander. Sie verwandelte sich wie ein Chamäleon und war nicht zu erkennen. Dieses Spiel hat sie wirklich gut beherrscht -«
    »Einmal hatte ich mich am Auge verletzt und konnte nicht mehr richtig sehen, da hat er mich den ganzen Weg nach Hause geführt -«
    »Er wollte keine feste Gestalt bekommen, aber ich wollte endlich erwachsen werden. Darüber haben wir uns häufig gestritten -« »Sie rollte sich immer in meiner Hand ein, wenn wir schlafen gingen -«
    »Existieren sie immer noch irgendwo? Werden wir sie wieder sehen?« »Nein. Wenn wir sterben, erlischt unser Dæmon wie eine Kerze. Ich habe das einmal mitverfolgt. Meinen Castor habe ich nie wieder gesehen. Ich konnte nicht mal auf Wiedersehen sagen.«
    »Sie lösen sich nicht in Luft auf, sie müssen doch irgendwo sein! Mein Dæmon ist irgendwo, das weiß ich ganz sicher.«
    Die herandrängenden Geister diskutierten leidenschaftlich miteinander. Ihre Augen glänzten und ihre Wangen waren gerötet, als ob sie sich Leben von den Reisenden geborgt hätten.
    Will fragte: »Ist hier jemand aus meiner Welt, in der wir keine Dæmonen haben?«
    Ein dünner Geisterjunge, ungefähr in Wills Alter, nickte.
    »Ja«, sagte er. »Wir verstanden erst nicht, was Dæmonen waren, aber wir wussten, was es hieß, ohne Dæmon auskommen zu müssen. Hier sind Menschen aus allen möglichen Welten.«
    »Ich kannte meinen Tod«, berichtete ein Mädchen, »die ganze Zeit über, in der ich heranwuchs. Als ich dann von Dæmonen reden hörte, dachte ich, damit sei so etwas gemeint wie mein Tod. Jetzt vermisse ich ihn. Ich werde ihn nie wieder sehen. Das ist jetzt aus und vorbei, lauteten seine letzten Worte, und dann ging er für immer. Solange er bei mir war, wusste ich, dass ich jemanden hatte, dem ich vertrauen konnte, der mir sagen konnte, wohin die Reise ginge und was zu tun sei. Doch nun habe ich ihn nicht mehr. Ich erfahre jetzt nie mehr, was noch passieren könnte.«
    »Nichts geschieht mehr!«, rief jemand. »Überhaupt nichts, für immer!«
    »Das kannst du doch gar nicht wissen«, warf ein anderes Mädchen ein. »Die zwei hier sind doch gekommen. Niemand hätte jemals gedacht, dass so etwas passieren könnte.«
    Damit meinte sie Wills und Lyras Ankunft im Land der Toten. »Das ist das erste Mal, dass hier überhaupt etwas passiert ist«, sagte ein Geisterjunge. »Vielleicht ändert sich ja jetzt alles.«
    »Was würdest du tun, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?«, fragte Lyra.
    »Wieder hinauf in die Welt gehen!«
    »Auch wenn es nur darum ginge, die Welt noch ein einziges Mal wieder zu sehen? Wäre das immer noch euer Wunsch?«
    »Ja! Ja! Ja!«
    »Nun, zuerst muss ich Roger finden«, sagte Lyra. Der neue Plan ließ sie nicht mehr los. Doch den musste sie zuerst mit Will besprechen.
    Die zahllosen Geister bewegten sich langsam in eine Richtung. Die Kinder konnten das nicht sehen, aber Tialys und Salmakia beobachteten aus der Luft, wie sich die kleinen blassen Gestalten in einer Weise bewegten, die an die Wanderungen gewaltiger

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