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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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ein.
    Salmakia schwebte hinab, konnte aber in dem dichten Gedränge nicht landen, und selbst wenn ein Geist sich angeboten hätte, hätten seine Hände oder Schultern sie nicht tragen können. Sie sah einen kleinen Geisterjungen mit einem ehrlichen, unglücklichen Gesicht, der ganz verstört darüber schien, dass die anderen so auf ihn einredeten. Die Lady rief ihm zu:
    »Roger? Bist du Roger?«
    Er blickte verdutzt und ängstlich hoch und nickte dann.
    Salmakia sauste zurück zu ihrem Gefährten und gemeinsam flogen sie zu Lyra. Der Weg dorthin war recht lang und nicht immer leicht zu finden, doch die Bewegungsmuster der Geister dienten ihnen als ausreichende Anhaltspunkte.
    »Da ist sie«, sagte Tialys, als sie Lyra erkannten. »Lyra! Wir haben deinen Freund Roger gefunden!«
    Das Mädchen schaute hoch und hielt die Hand für die Libelle bereit. Das große, rot und gelb schillernde Insekt landete darauf und ließ die hauchdünnen Flügel stillstehen. Tialys blieb im Sattel sitzen, während Lyra ihn mit den Augen fixierte.
    »Wo?«, rief sie, ganz atemlos vor Aufregung. »Ist er weit weg?« »Zu Fuß vielleicht eine Stunde«, sagte der Chevalier. »Aber er weiß, dass du kommst. Die anderen haben es ihm gesagt und wir haben uns vergewissert, dass er es wirklich ist. Geht einfach in der gleichen Richtung weiter, dann trefft ihr ihn.«
    Tialys sah, wie Will sich gerade aufrichtete und seine letzten Kräfte sammelte. Die Vorfreude hatte bereits Lyras Reserven mobilisiert, und sie bestürmte den Gallivespier mit Fragen: Welchen Eindruck machte Roger? Hatte er zu ihnen gesprochen? Nein, das wohl nicht; aber sah er erfreut aus? Waren sich die anderen Kinder bewusst, was hier geschah, und versuchten sie zu helfen oder standen sie nur im Weg?
    Und so weiter. Tialys bemühte sich, alle Fragen wahrheitsgemäß und ausführlich zu beantworten. So kam das Mädchen Schritt für Schritt dem Jungen näher, der ihretwegen sein Leben hatte lassen müssen.

Kein Ausweg
     
     

    »Will«, sagte Lyra, »was, glaubst du, werden die Harpyien tun, wenn wir die Geister hinauslassen?«
    Die Schreckensvögel wurden nämlich immer lauter und flogen jetzt noch näher an die Kinder heran. Vor allem aber wurden es immer mehr, als ob der düstere Himmel selbst sie ausgebrütet hätte. Die Geister warfen ängstliche Blicke nach oben.
    »Sind wir bald bei Roger?«, rief Lyra zu Lady Salmakia hinauf. »Es ist nicht mehr weit«, antwortete Salmakia, während sie über ihnen kreiste. »Du könntest ihn schon sehen, wenn du auf den Felsen dort klettern würdest.«
    Aber Lyra wollte keine Zeit verschwenden. Sie bemühte sich, für Roger ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, doch vor ihrem geistigen Auge erschien jedes Mal das Bild eines kleinen Hundes, der ganz allein auf der Anlegestelle im Nebel saß: ihr geliebter Pan. Dem Mädchen war zum Heulen zu Mute, doch sie musste um Rogers willen Optimismus ausstrahlen.
    Und dann standen sie sich unvermittelt gegenüber. Mitten im Gedränge der Geister sah sie plötzlich Roger, sein vertrautes Gesicht, zwar blass, aber so freudig, wie das einem Geist überhaupt möglich war. Er kam ihr entgegen, um sie zu umarmen.
    Doch Roger strich wie kalter Rauch durch ihre Arme, und obgleich sie seine Hand an ihrem Herzen fühlte, fehlte ihm die Kraft, sie festzuhalten. Sie konnten sich nie mehr richtig berühren. Aber er konnte noch sprechen, und mit Flüsterstimme sagte er:
    »Lyra, ich hätte nie geglaubt, dich jemals wieder zu sehen. Ich dachte, wenn du nach deinem eigenen Tod hierher kämest, wärest du so viel älter als ich, schon erwachsen, und würdest nichts mehr von mir wissen wollen -«
    »Aber warum denn das?«
    »Weil ich das Falsche getan habe, als Pan meinen Dæmon aus den Fängen von Lord Asriels Dæmon gerissen hatte. Wir hätten wegrennen sollen, statt mit der Schneeleopardin zu kämpfen. Zurück zu dir. Dann hätte sich die Schneeleopardin meinen Dæmon nicht zurückgeholt. Als sich dann das Schneebrett unter uns löste, wäre mein Dæmon noch bei mir gewesen.«
    »Unfug, das war doch nicht deine Schuld!«, erwiderte Lyra. »Ich war es doch, die dich überhaupt erst nach Svalbard gebracht hatte. Ich hätte dich nicht mit den anderen Kindern und den Gyptern gehen lassen dürfen. Es war meine Schuld. Das alles tut mir so Leid, Roger, ehrlich. Es war meine Schuld, ohne mich wärest du gar nicht hier ... «
    »Tja«, sagte er, »ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich auf eine andere Art dran glauben

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