Das Bernstein-Teleskop
Rentierherden oder den Vogelzug erinnerte. Den Mittelpunkt der Bewegung bildeten die beiden Kinder, die langsam weiterzogen, nicht an der Spitze und auch nicht bloß nachfolgend, aber doch so, dass sie der Bewegung aller Toten eine Richtung gaben.
Die Spione, deren Gedanken noch rascher waren als ihre hin und her sausenden Flugtiere, wechselten Blicke und landeten mit den Libellen auf einem vertrockneten Ast.
»Haben wir eigentlich Dæmonen, Tialys?«, fragte die Lady.
»Seit wir in das Boot gestiegen sind«, sagte er, »habe ich das Gefühl, als ob mir das Herz aus dem Leib gerissen und noch schlagend ans Ufer geworfen worden wäre. Aber das ist natürlich nicht geschehen. Es schlägt immer noch in meiner Brust. Folglich ist etwas von mir dort am Ufer geblieben, zusammen mit dem Dæmon des Mädchens, und auch etwas von dir, Salmakia. Dein Gesicht sieht angespannt aus, und deine Hände sind blass und verkrampfen sich. Ja, auch wir haben Dæmonen, auch wenn wir nicht wissen, wie sie aussehen. Vielleicht sind die Menschen in Lyras Welt die einzigen Lebewesen, die um ihre Dæmonen wissen. Möglicherweise war es deshalb einer von ihnen, der das Feuer der Rebellion entfacht hat.«
Er stieg vom Rücken der Libelle und band das Tier fest an. Dann holte der Chevalier den Magnetstein-Resonator hervor, gab aber nach wenigen Griffen wieder auf.
»Keine Antwort«, sagte er düster.
»Dann sind wir von allem Leben abgeschnitten?«
»Jedenfalls abgeschnitten von jeder Hilfe. Aber wir wussten ja, dass wir ins Land der Toten kommen würden.«
»Der Junge würde mit dem Mädchen bis ans Ende der Welt gehen.« »Ob uns sein Messer den Weg zurück öffnen wird, was meinst du?« »Ich bin mir sicher, dass er das glaubt. Aber ehrlich gesagt, Tialys, ich weiß es nicht.«
»Er ist noch sehr jung. Beide sind noch jung. Sollte Lyra das hier nicht überleben, dann stellt sich die Frage überhaupt nicht mehr, ob sie in der Stunde der Versuchung das Richtige wählt.«
»Hat sie vielleicht schon gewählt? Als sie sich dafür entschied, ihren Dæmon am Ufer zurückzulassen, war das die Wahl, die sie zu treffen hatte?«
Der Chevalier schaute auf die Millionen Geister, die alle hinter dem hellen Funken der Lyra Listenreich herzogen. Er sah ihren Haarschopf, weit und breit der hellste Punkt im Dämmerschein, und neben ihr den dunkelhaarigen, kantigen Kopf des Jungen.
»Nein«, erwiderte er. »Noch nicht. Die Wahl steht noch aus, ganz gleich, wie sie aussehen wird.«
»Dann müssen wir sie wohlbehalten dorthin bringen.«
»Beide müssen wir hinbringen. Sie sind doch jetzt zusammengeschmiedet.«
Lady Salmakia gab ihrer Libelle die Sporen und flog hinunter zu den Kindern. Der Chevalier folgte dichtauf.
Sie blieben aber nicht bei den beiden. Sobald die Spione sich im Tiefflug vergewissert hatten, dass den Kindern auch weiterhin keine Gefahr drohte, flogen sie weiter, teils weil die Libellen nicht an einer Stelle bleiben konnten, teils weil sie herausbekommen wollten, wie weit sich dieses schauerliche Land ausdehnte.
Lyra sah sie über ihren Köpfen dahinsausen und fühlte sich erleichtert, dass es hier noch so etwas wie Glanz und Schönheit gab. Nun konnte sie aber ihre Idee nicht länger für sich behalten, legte den Mund an Wills Ohr und flüsterte:
»Will, ich möchte am liebsten alle Geisterkinder von hier hinausführen - und die Erwachsenen ebenfalls. Wir könnten sie befreien! Zuerst suchen wir Roger und deinen Vater und dann öffnen wir einen Weg in die Welt draußen und befreien sie.«
Will schenkte ihr ein so herzliches, freudiges Lächeln, dass in ihr etwas dahinschmolz. Zumindest empfand sie es so, doch ohne Pantalaimon konnte sie sich nicht fragen, was es bedeutete, ihr Herz auf eine neue Art schlagen zu hören. Erstaunt mahnte sie sich, ohne zu taumeln geradeaus zu gehen.
So zogen sie weiter. Der geflüsterte Name »Roger« eilte ihnen voraus, die Worte »Roger - Lyra kommt - Roger - Lyra ist da« gingen von Geist zu Geist wie ein elektrischer Impuls von einer Nervenzelle zur anderen. Tialys und Salmakia, die auf ihren unermüdlichen Libellen hoch über ihnen kreisten und angestrengt Ausschau hielten, entdeckten schließlich eine neue Bewegung. Etwas weiter entfernt hatte sich in der Menge ein Wirbel gebildet. Als die Spione tiefer flogen, wurden sie zum ersten Mal nicht beachtet, weil etwas anderes die ganze Aufmerksamkeit der Geister beanspruchte. Aufgeregt gestikulierend redeten sie im Flüsterton auf jemanden
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