Das Bernstein-Teleskop
Hände erneut Mrs. Coulters Hals. Er fummelte so lange an dem Verschluss des Medaillons herum, dass Lord Roke schon den Morgen heraufdämmern sah. Endlich hatte der Mönch es geschafft und richtete sich vorsichtig auf.
Bevor er sich umdrehen konnte, huschte Lord Roke so leise und flink wie eine Maus durch die Tür in den dunklen Korridor und wartete dort. Der junge Mann kam auf Zehenspitzen heraus, schloss hinter sich ab und entfernte sich. Der Gallivespier folgte ihm.
Bruder Louis eilte zum Turm. Als der Vorsitzende ihm öffnete, sauste Lord Roke an ihm vorbei zu dem Betpult in der Ecke des Zimmers. Dort kauerte er sich in den Schatten einer vorspringenden Leiste und lauschte.
Pater MacPhail war nicht allein. Der Alethiometrist Fra Pavel blätterte eifrig in seinen Büchern, und am Fenster stand aufgeregt und mit bleichem Gesicht noch jemand: Dr. Cooper, der Experimentaltheologe aus Bolvangar. Beide sahen auf.
»Gute Arbeit, Bruder Louis«, lobte der Vorsitzende. »Geben Sie mir die Kette und setzen Sie sich, setzen Sie sich. Gute Arbeit!«
Fra Pavel schob einige seiner Bücher zur Seite, und der junge Priester legte die goldene Kette auf den Tisch. Die anderen beugten sich darüber, und Pater MacPhail machte sich an dem Verschluss zu schaffen. Dr. Cooper reichte ihm ein Taschenmesser. Ein leises Klicken erklang, und der Vorsitzende seufzte erleichtert.
Lord Roke kletterte auf das Betpult, um besser sehen zu können. Im Licht der Naphthalampe schimmerte etwas auf eine Locke dunkelgoldener Haare. Der Vorsitzende wendete sie zwischen den Fingern hin und her.
»Können wir mit absoluter Sicherheit davon ausgehen, dass sie von dem Kind stammt?«
»Ja«, erwiderte Fra Pavel müde.
»Und haben wir genug Haare, Dr. Cooper?«
Der Experimentaltheologe beugte sich über die Locke, nahm sie Pater MacPhail aus der Hand und hielt sie ins Licht.
»Oh ja«, murmelte er, »mehr als genug. Ein einziges Haar würde ausreichen.«
»Das freut mich zu hören«, sagte der Vorsitzende. »Und nun, Bruder Louis, hängen Sie das Medaillon wieder um den Hals der guten Frau.«
Die Schultern des Priesters sackten kaum merklich nach unten. Er hatte gehofft, seine Aufgabe sei erledigt. Der Vorsitzende schob Lyras Haare in einen Umschlag und schloss das Medaillon. Dabei sah er sich nach allen Richtungen um, und Lord Roke musste schleunigst wieder hinter dem Pult verschwinden.
»Exzellenz«, sagte Bruder Louis, »natürlich werde ich gehorchen, aber darf ich fragen, wofür Ihr die Haare des Kindes braucht?«
»Nein, Bruder Louis, denn das würde Sie nur Ihres Seelenfriedens berauben. Überlassen Sie das uns. Sie können gehen.«
Der junge Mann schluckte seine Enttäuschung hinunter, nahm das Medaillon und zog sich zurück. Lord Roke wollte schon hinter ihm her, um Mrs. Coulter in genau dem Moment zu wecken, in dem der Priester versuchte, ihr die Kette wie der anzulegen. Ihre Reaktion hätte ihn interessiert, doch war es jetzt viel wichtiger, zu erfahren, was die andere Seite vor hatte. Die Tür schloss sich hinter dem Priester, und der Gallivespier kehrte auf seinen Horchposten zurück.
»Woher wussten Sie, dass Mrs. Coulter die Haare in dem Medaillon aufbewahrt?«, fragte der Wissenschaftler.
»Jedes Mal wenn sie von ihrer Tochter sprach, fasste sie mit der Hand an das Medaillon«, erwiderte der Vorsitzende. »Und wann können Sie fertig sein?«
»In ein paar Stunden«, erklärte Dr. Cooper.
»Was werden Sie mit den Haaren unternehmen?«
»Wir geben sie in die Schwingungskammer. Wie Ihr wisst, ist jeder Mensch einzigartig und besitzt spezifische Genpartikel ... Sobald wir diese Informationen von Lyras Haar gewonnen und ausgewertet haben, werden sie als Folge anbarischer Impulse codiert und auf das Zielgerät übertragen. Dieses ortet dann die Quelle des Materials, also des Haarschopfes. Der Aufenthaltsort des Kindes wird somit aufgespürt, ganz gleich, wo sie sich gerade befindet. Wir greifen da bei übrigens auf die ketzerische Hypothese von Barnard und Stokes von den vielen Welten zurück ... «
»Seien Sie unbesorgt, Doktor. Wie Fra Pavel mir sagte, befindet das Kind sich in einer anderen Welt. Bitte fahren Sie fort. Die Bombe wird durch die Haare auf ihr Ziel gelenkt?«
»Ja, und zwar genau auf den Haarschopf, von dem diese Locke hier abgeschnitten wurde.«
»Das heißt also, wenn die Bombe explodiert, wird das Kind von ihr getötet, egal wo es sich aufhält?«
Der Wissenschaftler holte tief Luft, dann nickte
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