Das Bernstein-Teleskop
er zögernd. »Ja.« Er schluckte. »Wir benötigen dazu allerdings ungeheuer viel anbarische Energie. So wie man für eine Atombombe hochexplosiven Sprengstoff braucht, um das Uran zu verdichten und eine Kettenreaktion auszulösen, braucht man für diese Waffe einen gewaltigen Energiestoß, um die noch viel größere Energie des Trennungsprozesses freizusetzen. Ich frage mich deshalb -«
»Wo die Bombe explodiert, ist ganz egal?«
»Ja, das ist es ja gerade. Das spielt keine Rolle.«
»Und alles steht bereit?«
»Jetzt, wo wir die Haare haben, ja. Aber sehen Sie, der nötige Energiestoß -«
»Darum habe ich mich gekümmert. Das hydro-anbarische Kraftwerk Saint Jean-les-Eaux wurde für unsere Zwecke beschlagnahmt. Dort dürfte doch wohl genügend Energie produziert werden, meinen Sie nicht auch?«
Der Wissenschaftler nickte.
»Dann fangen wir sofort an. Kümmern Sie sich bitte um die Bombe, Dr. Cooper. Machen Sie sie so rasch wie möglich transportfertig. In den Bergen schlägt das Wetter schnell um, und ein Gewitter ist im Anzug.«
Der Wissenschaftler nahm den kleinen Umschlag mit Lyras Haaren, verbeugte sich hastig und ging. Lord Roke folgte ihm lautlos wie ein Schatten.
Sobald sie vom Zimmer des Vorsitzenden nicht mehr gehört werden konnten, sprang der Gallivespier. Dr. Cooper, der auf der Treppe unter ihm ging, spürte einen schmerzhaften Stich in der Schulter und griff nach dem Geländer. Doch sein Arm blieb seltsam kraftlos. Er stolperte, stolperte die Treppe hinunter und blieb unten halb bewusstlos liegen. Lord Roke entwand der zuckenden Hand des Mannes das Kuvert, was ihm einige Mühe bereitete, denn es war halb so groß wie er. Dann eilte der Spion durch den dunklen Korridor zu dem Zimmer, in dem Mrs. Coulter schlief.
Der Spalt unter der Tür war so breit, dass er hindurchschlüpfen konnte. Bruder Louis war bereits dagewesen und wieder verschwunden. Er hatte sich allerdings nicht getraut, Mrs. Coulter die Kette umzulegen. Sie lag neben ihr auf dem Kissen.
Lord Roke drückte Mrs. Coulters Hand, um sie aufzuwecken. Obwohl Mrs. Coulter fest geschlafen hatte, erkannte sie ihn sofort. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Er erklärte ihr, was geschehen war, und gab ihr den Umschlag.
»Vernichten Sie die Haare sofort«, wies er sie an. »Ein einziges Haar würde ausreichen, sagte der Mann.«
Mrs. Coulter betrachtete die dunkelblonde Locke und schüttelte den Kopf.
»Dazu ist es zu spät«, sagte sie. »Das ist nur die Hälfte der Haare, die ich Lyra abgeschnitten habe. Offenbar hat der Pater einen Teil zurückbehalten.«
Lord Roke zischte wütend.
»Als er sich umgesehen hat!«, rief der Spion leise. »Ich musste mich verstecken, damit er mich nicht entdeckte - in diesem Augenblick wird er die Haare genommen haben ... «
»Und wir wissen nicht, wo er sie aufbewahrt«, sagte Mrs. Coulter. »Aber wenn wir die Bombe finden könnten, dann -«
»Pst!«
Der goldene Affe hatte sie unterbrochen. Lauschend kauerte er an der Tür. Und dann hörten sie es auch: schwere Schritte, die rasch näher kamen.
Mrs. Coulter gab Lord Roke hastig Umschlag und Locke, und der Lord sprang auf den Schrank. Dann legte Lyras Mutter sich neben ihren Dæmon aufs Bett. In der Tür drehte sich knirschend der Schlüssel. Licht fiel über das Bett. »Wo ist Ihre Waffe?«, schnarrte die Stimme des Vorsitzenden. »Wo haben Sie sie versteckt? Womit haben Sie Dr. Cooper überfallen?«
Mrs. Coulter hob den Arm, um ihre Augen gegen das grelle Licht abzuschirmen, und setzte sich verwirrt auf.
»Ihr tut ja einiges für die Unterhaltung Eurer Gäste«, murmelte sie schläfrig. »Ist das ein neues Spiel? Was muss ich tun? Und wer ist Dr. Cooper?«
Hinter Pater MacPhail trat der Wachmann aus dem Torhaus ins Zimmer. Mit einer Taschenlampe leuchtete er in die Ecken und unter das Bett. Der Vorsitzende wirkte verdrossen. Mrs. Coulter starrte ihn schlaftrunken an, die Augen gegen das Flurlicht zusammengekniffen. Es war offensichtlich, dass sie das Bett nicht verlassen hatte.
»Sie haben einen Komplizen«, fuhr der Vorsitzende sie an. »Er hat einen Gast des Kollegiums überfallen. Wer ist es? Wer hat Sie begleitet? Wo steckt er?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht. Aber was ist denn das ...?«
Mrs. Coulter hatte mit der Hand, mit der sie sich aufgestützt hatte, das Medaillon auf dem Kissen berührt. Jetzt verstummte sie, nahm das Medaillon und starrte den Vorsitzenden mit verwirrt aufgerissenen Augen an. Und
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