Das Bernstein-Teleskop
tat?
»Das ist uns bekannt«, sagte der Vorsitzende nur.
»Ich bin beeindruckt. Offenbar ist Fra Pawel schneller geworden. Zu meiner Zeit hätte er noch mindestens einen Monat gebraucht, um das alles herauszufinden.«
Sie nippte an ihrem Chokolatl, das hier dünn und schwach serviert wurde. Wie ihnen das ähnlich sieht, diesen erbärmlichen Priestern, dachte Mrs. Coulter, ihre selbstgerechte Askese auch ihren Gästen zuzumuten.
»Berichten Sie mir von Lord Asriel«, verlangte der Vorsitzende. »Ich will alles wissen.«
Mrs. Coulter lehnte sich bequem zurück und begann zu erzählen - nicht alles, aber das hätte der Vorsitzende sowieso keinen Moment erwartet. Sie berichtete also von der Festung und den Verbündeten Lord Asriels, von den Engeln, den Bergwerken und den Hochöfen.
Pater MacPhail hörte ihr vollkommen unbewegt und in starrer Haltung zu. Sein Dæmon, eine Eidechse, prägte sich jedes Wort genau ein.
»Und wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte er dann.
»Ich habe einen Gyropter gestohlen. Das Benzin ging aus, deshalb musste ich kurz vor der Stadt landen. Den Rest des Weges bin ich zu Fuß gegangen.«
»Lässt Lord Asriel den Jungen und das Mädchen suchen?«
»Natürlich.«
»Er ist vermutlich hinter dem Messer her. Wissen Sie übrigens, dass es einen Namen hat? Die Klippenalpe im Norden nennen es den Gottesvernichter.« Der Vorsitzende stand auf, trat zum Fenster und blickte auf den Kreuzgang hinunter. »Genau das will Asriel doch, nicht wahr? Den Allmächtigen vernichten. Manche behaupten, Gott sei schon tot. Asriel gehört offenbar nicht zu ihnen. Er will ihn ja erst noch töten.«
»Wo ist Gott denn, wenn er lebt?«, fragte Mrs. Coulter. »Warum redet Er nicht mehr mit uns? Am Anfang der Welt ging Gott durch das Paradies und sprach mit Adam und Eva. Dann zog Er sich immer mehr zurück. Moses hörte nur noch seine Stimme. Später, zur Zeit Daniels, war Er ein alter Mann - der so genannte Alte. Wo hält Er sich jetzt auf? Lebt Er noch, steinalt und hinfällig, senil, unfähig zu denken, handeln oder sprechen, ein siechender Koloss, der nicht sterben kann? Wäre es dann nicht ein Zeichen wahrhafter Barmherzigkeit und Gottesliebe, zu Ihm zu gehen und Ihm den Gnadenstoß zu versetzen?«
Mrs. Coulter hatte sich in eine stille Begeisterung hineingeredet. Sie wusste nicht, ob sie hier je wieder lebend hinaus kommen würde, doch berauschte es sie, so zu dem mächtigen Mann vor ihr zu sprechen.
»Und der Staub?«, sagte der Vorsitzende. »Was für ketzerische Gedanken hegen Sie zu ihm?«
»Keine«, erwiderte die Frau. »Ich weiß nicht, was Staub ist. Niemand weiß das.«
»Aha. Nun, wie ich schon eingangs sagte, stehen Sie unter Arrest. Lassen Sie uns überlegen, wo Sie schlafen werden. Sie sollen es bequem haben und niemand wird Sie behelligen, aber Sie dürfen das Gebäude nicht verlassen. Morgen unterhalten wir uns weiter.«
Er klingelte, und Bruder Louis war sofort zur Stelle.
»Bringen Sie Mrs. Coulter in das beste Gästezimmer«, befahl der Vorsitzende, »und sperren Sie sie dort ein.«
Das beste Gästezimmer erwies sich als ein trister, billig möblierter, doch immerhin sauberer Raum. Sobald der Schlüssel sich im Schloss gedreht hatte, sah Mrs. Coulter sich nach Mikrofonen um. Eins fand sie in der verschnörkelten Lampenfassung, ein zweites an der Innenseite des Bettrahmens. Sie stöpselte beide aus. Als Nächstes bekam sie einen gewaltigen Schrecken. Auf der Kommode hinter der Tür saß Lord Roke und beobachtete sie.
Ein Schrei entfuhr ihr, und sie musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Im Schneidersitz hockte der Gallivespier da, die Gelassenheit in Person, und weder Mrs. Coulter noch der goldene Affe hatten ihn bemerkt. Als ihr Puls sich wieder beruhigt hatte und sie langsamer atmete, sagte sie:
»Wann hätten Sie mir Ihre Anwesenheit denn freundlicherweise mitgeteilt, Mylord? Vor dem Ausziehen oder danach?«
»Davor«, erwiderte er. »Sagen Sie Ihrem Dæmon, er soll sich nicht aufregen, sonst mache ich ihn zum Krüppel.«
Der goldene Affe hatte die Zähne gefletscht und das Fell gesträubt. Normale Menschen hätten es angesichts des unverhohlenen Hasses auf seinem Gesicht mit der Angst zu tun bekommen, doch Lord Roke lächelte nur. Seine Sporen glitzerten im Dunkel.
Er stand auf und streckte sich.
Ich habe gerade mit meinem Agenten in Lord Asriels Festung gesprochen«, fuhr er fort. »Lord Asriel lässt Sie grüßen und bittet Sie, ihn zu benachrichtigen,
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