Das Bernstein-Teleskop
nun wurde Lord Roke Zeuge ihrer überragenden schauspielerischen Fähigkeiten. »Aber«, rief sie erstaunt, »das ist doch mein ... was hat das denn hier zu suchen? Wer ist in diesem Zimmer gewesen, Pater MacPhail? Jemand hat das von meinem Hals genommen. Und - wo sind Lyras Haare? Das Medaillon enthielt eine Locke meines Kindes. Wer hat sie genommen? Warum? Was geht hier vor?«
Sie sprang aus dem Bett. Zerzaust standen ihr die Haare ab, und ihre Stimme zitterte vor Erregung. Mrs. Coulter wirkte nicht weniger verwirrt als der Vorsitzende.
Pater MacPhail trat einen Schritt zurück und fasste sich mit der Hand an den Kopf.
»Aber es muss jemand mit Ihnen gekommen sein«, sagte er barsch. »Sie haben einen Komplizen. Wo versteckt er sich, heraus mit der Sprache.«
»Ich habe keinen Komplizen«, erwiderte sie wütend. »Wenn es bei Euch einen unsichtbaren Attentäter gibt, kann das nur der Teufel sein. Der fühlt sich hier sicher zu Hause.«
»Bringen Sie Mrs. Coulter in den Keller und legen Sie sie in Ketten«, befahl Pater MacPhail der Wache. »Jetzt weiß ich, was wir mit ihr anfangen. Ich hätte gleich bei ihrer Ankunft daran denken sollen.«
Mrs. Coulter sah wild um sich. Im Dunkel unter der Decke glitzerten Lord Rokes Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, und dieser Bruchteil genügte dem Lord. Er wusste sofort, was Mrs. Coulter von ihm verlangte.
Saint Jean-les-Eaux
Tosend stürzte der Wasserfall von Saint-Jean-les-Eaux zwischen den schroffen Felswänden eines Alpenausläufers in die Tiefe. Das Kraftwerk selbst hing an der Bergflanke darüber. Die Gegend war unwegsam, niemand hätte hier je etwas gebaut, wären da nicht die Tausende von Tonnen Wasser gewesen, die durch die Klamm stürzten, eine Kraft, die gewaltige anbarische Generatoren antreiben konnte.
Am Abend nach Mrs. Coulters Festnahme stürmte es. Dicht vor der senkrecht abfallenden Steinfassade des Kraftwerks schwebte ein von heftigen Windstößen geschüttelter Zeppelin. Die Suchscheinwerfer am Boden des Fahrzeugs erweckten den Eindruck, als stehe das Luftschiff auf Stelzen aus Licht und sei im Begriff, sich langsam hinzulegen.
Der Pilot dachte an alles andere als an Ruhe. Der Wind fuhr in tückischen Böen um die Kanten der Felsen, und der Zeppelin kam den Kabeln, Hochspannungsmasten und Transformatoren gefährlich nahe. Mit einem gasgefüllten Luftschiff dagegen zu prallen hätte den sofortigen Tod bedeutet. Graupelschauer peitschten schräg gegen die starre Hülle des Fahrzeugs, übertönten mit ihrem Lärm fast noch das Knattern und Dröhnen der gegen den Wind ankämpfenden Motoren und behinderten die Sicht zum Boden.
»Nicht hier«, rief der Pilot gegen den Lärm. »Wir steuern um die Bergnase herum.«
Grimmig sah Pater MacPhail zu, wie der Pilot den Gashebel nach vorn schob. Die Motoren heulten auf, und der Zeppclin stieg abrupt und flog über den Rand des Berges. Die Stelzen aus Licht wuchsen in die Länge und schienen gleichsam suchend hangabwärts zu tasten. Ihre unteren Enden verschwanden im prasselnden Regen.
Der Vorsitzende beugte sich vor, damit der Pilot ihn hören konnte. »Näher kommen Sie an das Kraftwerk nicht heran?«
»Nicht, wenn Sie landen wollen«, erwiderte der Pilot.
»Das wollen wir auf jeden Fall. Na gut, dann setzen Sie uns weiter unten ab.«
Der Pilot erteilte der Besatzung Anweisungen zum Landen. Da die Ausrüstung, die sie ausladen wollten, schwer und empfindlich war, musste das Luftschiff unbedingt sicher vertäut werden. Pater MacPhail lehnte sich zurück, trommelte mit den Fingern auf den Armlehnen und kaute auf seiner Lippe, schwieg aber und ließ den Piloten gewähren. Lord Roke beobachtete von seinem Versteck in den quer laufenden Verstrebungen im rückwärtigen Teil der Gondel alles genau. Immer wieder war der kleine Schatten während des Fluges hinter dem Gitterdraht entlanggeglitten, deutlich für jedermann sichtbar, wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, den Kopf zu drehen. Der Spion riskierte viel, aber wenn er die Gespräche belauschen wollte, musste er sich so weit vor wagen.
Wieder kroch der Lord nach vorn und lauschte angestrengt, ob er im Brüllen der Motoren, dem Trommeln des Hagels und Regens, dem Singen des Windes in den Drähten und dem Poltern von Stiefeln auf eisernen Laufgängen noch etwas hören konnte. Der Bordingenieur rief dem Piloten einige Zahlen zu, und der bestätigte sie. Lord Roke glitt ins Dunkel zurück und klammerte sich an die
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