Das Bernstein-Teleskop
besondere Bewandtnis. Wenn man sie einmal erspürt hat, vergisst man sie nie wieder. Ich kann ihn sehen, dort wo der Fels in die Dunkelheit abfällt. Aber dieses große Loch dort unten führt in keine Welt wie alle anderen. Es ist irgendwie anders. Das gefällt mir nicht. Am liebsten würde ich es schließen.« »Du hast doch aber nicht jedes Fenster, das du mit dem Messer geöffnet hast, auch wieder verschlossen.«
»Nein, weil ich es bei manchen nicht konnte. Aber ich hätte es tun sollen. Wenn sie offen bleiben, stiftet das Verwirrung. Und noch dazu ein so großes ... « Er zeigte nur nach unten, weil er nicht in den Abgrund schauen wollte.
»Irgendetwas Schlimmes wird noch passieren, das spüre ich genau.« Während die beiden Kinder miteinander redeten, fand etwas weiter entfernt ein anderes Gespräch statt: Chevalier Tia lys unterhielt sich mit den Geistern von Lee Scoresby und John Parry.
»Was sagst du da, John?«, entfuhr es Lee. »Du sagst, wir sollten nicht nach draußen ins Freie gehen. Mann, ich sehne mich mit jeder Faser meines Herzens danach, wieder ein Teil des lebendigen Universums zu werden!«
Ja, mir geht es genauso«, sagte Wills Vater. »Ich glaube aber, dass kampferprobte Männer wie wir den Krieg auf Lord Asriels Seite mitfechten können. Wenn wir hier bleiben und wenn wir im richtigen Augenblick auf den Plan treten, könnten wir sogar den Ausgang des Kampfes entscheiden.«
»Als Geister?«, warf Tialys ein und versuchte vergebens, den skeptischen Ton aus seiner Stimme zu verbannen. »Wie könnten wir als Geister am Kampf teilnehmen?«
»Gegen die Lebenden können wir nichts ausrichten, das ist klar. Aber Asriels Armee wird auch gegen andere Wesen kämpfen müssen.«
»Gegen die Gespenster«, sagte Lee.
»Genau das war mein Gedanke. Sie haben es auf den Dæmon abgesehen. Und unsere Dæmonen sind schon lange von uns gegangen. Das wäre also einen Versuch wert, Lee.«
»Gut, mit mir kannst du rechnen.«
»Und Sie, Chevalier«, sagte John Parrys Geist zu Tialys. »Ich habe mit den Geistern Ihres Volkes gesprochen. Werden Sie lang genug leben, um noch einmal das Licht der Sonne zu erblicken, ehe Sie sterben und als Geist wiederkehren?«
»Es stimmt, unser Leben ist kurz, verglichen mit dem der Menschen«, sagte Tialys. »Ich habe noch ein paar Tage zu leben und Lady Salmakia vielleicht noch etwas länger. Doch dank der Tat dieser Kinder wird unser Exil als Geister nicht von Dauer sein. Ich bin stolz darauf, ihnen geholfen zu haben.«
Sie krochen weiter. Und ständig gähnte der Abgrund neben ihnen. Ein kleiner Ausrutscher, ein Tritt auf ein loses Stück Felsen oder ein falscher Griff, und der Sturz in die Tiefe wäre die unvermeidliche Folge. So tief war der Abgrund, dachte Lyra, dass man wohl unterwegs verhungern würde, ehe man unten ankäme. Der arme Geist würde seinen Sturz dann in immer gewaltigere Tiefen fortsetzen, ohne dass eine helfende Hand sich nach ihm ausstrecken und ihn wieder hochziehen würde. Bei vollem Bewusstsein fiele er endlos weiter ...
Oh, das wäre noch schlimmer als die graue, schweigende Welt der Toten, die zu verlassen sie sich anschickten.
In Lyras Bewusstsein spielte sich etwas Merkwürdiges ab. Der Gedanke an den endlosen Sturz erzeugte in ihr ein Schwindelgefühl und sie taumelte. Will vor ihr war außer Reichweite, sonst hätte sie seine Hand ergriffen. In diesem Augenblick dachte das Mädchen aber mehr an Roger und ein Funken Eitelkeit flammte in ihrem Herzen auf. Einmal hatte Lyra bei einem Ausflug auf das Dach von Jordan College aus dem Wunsch heraus, Roger einen Schrecken einzujagen, ihr Schwindelgefühl überwunden und war an der Dachrinne entlangspaziert.
Sie schaute zurück, um ihn daran zu erinnern. Sie war Rogers Lyra, das Mädchen mit dem besonderen Schneid und der Grazie. Eine wie sie hatte es nicht nötig, hier wie ein Insekt zu krabbeln.
Doch der kleine Junge sagte nur mit Flüsterstimme: »Lyra, sei vorsichtig - denk daran, du bist nicht tot wie wir-«
Alles vollzog sich wie in Zeitlupe, und sie konnte dennoch nichts dagegen tun. Ihr Gewicht verlagerte sich, die Steine unter ihren Füßen gaben nach und sie geriet unweigerlich ins Rutschen. Im ersten Augenblick wurde Lyra wütend, dann fand sie es komisch. Wie kann man bloß so dumm sein, dachte sie. Doch als Steine polternd neben ihr bergab gingen, sie selbst nirgendwo mehr Halt fand und immer schneller auf den Rand des Abgrunds zu rutschte, da überfiel sie mit einem Mal blankes
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