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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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hinauf. Die Kinder und ihre Gefährten klammerten sich an einem schmalen Felsvorsprung - nicht mehr als ein Halt für Hände und Füße - am Rand des Abgrunds fest. Aus dieser gefährlichen Lage gab es nur einen Ausweg, den Hang zwischen all den Steinen und Felsbrocken hinaufzuklettern, die, so schien es, bei der leisesten Berührung bergab poltern würden.
    Nachdem sich der Staub gelegt hatte, erblickten sie hinter sich die Scharen der Geister, die entsetzt in den Abgrund starrten. Auch sie klammerten sich am Abhang fest und wagten nicht, sich zu rühren. Nur die Harpyien kannten keine Angst. Mit ihren breiten Flügeln kreisten sie über dem Hang, spähten nach vorn und nach hinten, flogen zurück, um die noch im Gang wartenden Geister zu beruhigen, und flogen vor, um den Ausgang zu erkunden.
    Lyra stellte erleichtert fest, dass wenigstens das Alethiometer heil geblieben war. Sie rang ihre Furcht nieder, schaute sich um und entdeckte Rogers schmales Gesicht.
    »Komm«, sagte sie zu ihm, »wir sind alle noch da, keiner ist verletzt. Und jetzt können wir sogar wieder etwas sehen. Also brauchen wir nur immer vorwärts zu gehen. Einen anderen Weg als am Rand dieses Abgrunds entlang gibt es nicht ... Wir müssen einfach immer nur geradeaus. Ich verspreche dir, dass Will und ich weitermachen, bis wir es geschafft haben. Also hab keine Angst, gib nicht auf und bleib nicht zurück. Sag den anderen Bescheid. Ich kann mich nicht alle paar Minuten zu ihnen umdrehen, weil ich selbst auf den Weg achten muss. Ich verlasse mich auf dich, dass du mir immer folgst, abgemacht?« Der kleine Geist nickte. Und so setzte die Kolonne der Toten in angstvollem Schweigen ihre Wanderung am Rande des Abgrunds fort. Wie lange sie brauchen würden, konnten weder Lyra noch Will abschätzen. Aber wie gefährlich die Reise war, das vergaßen sie keinen Augenblick. Die Finsternis war so bodenlos, dass sie jeden, der sie zu durchdringen versuchte, in die Tiefe zog und beim Betrachter ein scheußliches Schwindelgefühl hervorrief. Wenn irgend möglich schauten sie nach vorn, prägten sich einen vorspringenden Fels ein, der Halt für Hand und Fuß bot, oder ein Geröllfeld und vermieden den Blick zurück. Doch die Tiefe übte einen Sog aus. Wenn sie hinabschauten, fühlten sie, wie ihr Tritt unsicher wurde, wie ihre Augen flimmerten und eine schreckliche Übelkeit sie würgte.
    Hin und wieder blickten die Reisenden zurück auf die Geisterkolonne, die sich aus der Öffnung im Felswand, aus der auch sie gekommen waren: Mütter, mit Säuglingen an der Brust, betagte Väter, die behutsam Schritt vor Schritt setzten, kleine Kinder, die an den Rockschößen der Erwachsenen hin gen, Jungen und Mädchen in Rogers Alter, die sich gut hielten, und viele andere ... Alle, die noch Hoffnung hatten, folgten Will und Lyra auf dem Weg ins Freie.
    Doch einige besaßen kein großes Vertrauen zu ihnen. Sie hielten sich eng hinter den zweien, und beide Kinder fühlten kalte Hände an Herz und Eingeweiden und hörten von ganz nah Flüsterstimmen.
    »Wo ist denn nun die obere Welt? Wie weit müssen wir noch?«
    »Wir haben Angst hier!«
    »Wir hätten nie gehen sollen. Drüben in der Welt der Toten hatten wir wenigstens ein schwaches Licht und etwas Gesellschaft - das hier ist viel schlimmer!«
    »Es war falsch von euch, ins Land der Toten zu kommen. Ihr hättet in eurer Welt bleiben und auf euren Tod warten sollen, statt uns zu stören!« »Mit welchem Recht führt ihr uns eigentlich an? Ihr seid doch bloß Kinder. Wer hat euch die Befugnis dazu gegeben?«
    Will wollte sich schon umdrehen und sie wütend zurechtweisen. Aber Lyra hielt ihn zurück. Diese Toten seien nur unglücklich und hätten Angst, erklärte sie ihm.
    Dann sprach Lady Salmakia. Ihre deutliche ruhige Stimme war in der Leere ringsum weit zu hören.
    »Freunde, verliert nicht den Mut. Bleibt zusammen und lauft weiter! Der Weg ist beschwerlich, doch Lyra wird euch leiten. Habt Geduld und verzagt nicht, wir führen euch hier raus, keine Sorge!«
    Lyra fühlte sich durch Salmakias Worte gestärkt, und genau das hatte sich die Lady gewünscht. Und so setzten sie ihren beschwerlichen Weg fort.
    »Will«, sagte Lyra nach einer Weile, »hörst du den Wind?«
    »Ja«, sagte Will. »Aber ich spüre ihn überhaupt nicht. Übrigens habe ich noch etwas herausgefunden: Das Loch da unten ist so etwas Ähnliches wie die Fenster, die ich mit dem Messerschneide. Der Rand ist der gleiche. Mit diesen Rändern hat es seine

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