Das Bernstein-Teleskop
streiten, und zusammenzuarbeiten, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen. Außerdem waren sie Meister im Spalten, Sägen und Verbinden von Hölzern.
Binnen zwei Tagen hatte man den Beobachtungsposten entworfen, zusammengebaut und an seinen Platz in luftiger Höhe gehievt. Die Plattform war stabil, geräumig und bequem, und als Mary zum ersten Mal hinaufkletterte, fühlte sie sich auf eigentümliche Weise so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Es war ein Hochgefühl, das den ganzen Körper erfüllte. Umgeben vom üppigen Grün der Blätter, durch die das strahlende Blau des Himmels lugte, einer sanften Brise, die ihr Kühlung zufächelte, dem zarten Duft der Blumen, der sie jedes Mal erfreute, wenn sie ihn bewusst einsog, dem leisen Rascheln der Blätter, dem Gesang Hunderter von Vögeln und dem fernen Meeresrauschen wurden alle ihre Sinne so umschmeichelt und gehätschelt, dass sie, hätte sie das Denken aufgeben können, in reiner Seligkeit geschwommen wäre.
Aber selbstverständlich konnte Mary das Denken nicht aufgeben, denn um ihren Verstand zu gebrauchen, war sie ja hier hinaufgestiegen.
Während sie durch das Bernstein-Teleskop beobachtete, wie das Sraf, die Staubteilchen, von einer mächtigen Auswärtsströmung fortgetragen wurde, kam es ihr so vor, als ob auch das Glück, die Hoffnung und das Leben mit der Strömung verloren gingen. Das Ganze war ihr unerklärlich.
Seit dreihundert Jahren, hatten die Mulefa gesagt, ging die Fruchtbarkeit der Bäume zurück. Angenommen, die Staubteilchen strömten in gleicher Weise durch alle Welten, müsste sich das Gleiche nicht auch in ihrer Welt ereignen und in allen anderen ebenfalls? Vor dreihundert Jahren war die Royal Society gegründet worden, die erste naturwissenschaftliche Akademie in ihrer Welt. Newton machte damals seine bahnbrechenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Optik und formulierte das Gravitationsgesetz.
Vor dreihundert Jahren erfand in Lyras Welt ein kluger Kopf das Alethiometer.
Zum gleichen Zeitpunkt wurde in der fremdartigen Welt, durch die Lyra gekommen war, das Magische Messer geschaffen.
Mary streckte sich auf den Brettern aus und spürte, wie sich die Plattform ganz sanft und langsam im Rhythmus des mächtigen Baums bewegte, der im Wind hin- und herschwankte. Mit dem Teleskop vor dem Auge beobachtete sie den Strom von Myriaden kleiner Funken. Zwischen den Blättern und vorbei an den offenen Blütenkelchen und starken Ästen verfolgten die Staubteilchen entgegen der Windrichtung langsam, aber hartnäckig einen festen Kurs, so als ob sie von einem Bewusstsein gesteuert würden.
Was war vor dreihundert Jahren geschehen? War das die Ursache, weshalb der Staub langsam davonströmte, oder verhielt es sich gerade umgekehrt? Oder spielte noch ein weiteres Element eine Rolle? Oder bestand überhaupt keine Verbindung zwischen diesen Ereignissen?
Die Strömung wirkte hypnotisierend. Wie leicht hätte man in eine Trance fallen und seinen Geist den strömenden Teilchen anvertrauen können...
Ehe sie so recht begriff, wie ihr geschah, trat genau das ein, was sie sich gerade vorgestellt hatte. Mary wachte auf und stellte entsetzt fest, dass sie sich außerhalb ihres eingelullten Körpers befand.
Sie schwebte über dem Beobachtungsposten, ein paar Handbreit über den Ästen. Auch der Staubwind hatte sich verändert: Statt langsam dahinzugleiten, schossen die Teilchen vorüber wie ein Fluss bei Hochwasser. Hatte sich der Strom beschleunigt oder verging die Zeit für einen Geist außerhalb seines Körpers einfach schneller? Egal wie es sich tatsächlich verhalten mochte, Mary begriff, dass sie sich in größter Gefahr befand, denn die reißende Strömung drohte, ihr auch noch die letzte Verbindung zu ihrem Körper zu nehmen. Sie wollte die Arme ausstrecken, um irgendetwas Festes zu ergreifen, doch sie hatte ja keine Arme mehr. An nichts konnte sie sich festhalten. Mary schwebte jetzt fast über der Tiefe und entfernte sich immer weiter von ihrem Körper, der seelenruhig unter ihr schlief. Sie versuchte zu schreien und sich selbst aufzuwecken, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Ihr Körper schlief weiter, während das beobachtende Ich von der Strömung aus dem Laubwerk hinaus in den offenen Himmel getragen wurde.
Wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, sie kam keinen Zentimeter gegen die Strömung an. Die Kraft, die Mary forttrug, war so unbezwingbar wie Wasser, das über ein Wehr fließt: Die Staubteilchen trieben dahin, als ob sie ebenfalls
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