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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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gleiche energische Kinn, die gleiche Kopfhaltung.
    Der Junge bekam keinen Ton heraus, aber sein Vater sagte:
    »Hör zu, wir haben keine Zeit zum Reden, tu genau das, was ich dir sage. Nimm das Messer und taste nach der Stelle, an der eine Locke von Lyras Haar abgeschnitten wurde.«
    Er sprach so dringlich, dass Will nicht nach dem Grund dafür fragte. Erschrocken hielt Lyra die Libelle in einer Hand, während sie mit der anderen nach ihrem Haar tastete.
    »Nein«, sagte Will, »nimm die Hand wieder fort, ich sehe sonst nichts.«
    Im schwachen Schein erkannte er gerade über ihrer linken Schläfe eine Stelle, an der das Haar kürzer als sonst war.
    »Wer hat das getan?«, fragte Lyra. »Und -«
    »Pst!«, machte Will und wandte sich dann an den Geist seines Vaters: »Was muss ich jetzt tun?«
    »Schneide das gekürzte Haar dort bis auf die Kopfhaut ab. Sammle es ein und bewahre es sorgfältig auf. Nicht ein Haar darf verloren gehen. Dann schneidest du ein Fenster in eine andere Welt - ganz gleich in welche -, schiebst die abgeschnittenen Haare hindurch und schließt das Fenster wieder. Fang gleich damit an, auf der Stelle.«
    Die Harpyie schaute zu und auch die Geister hinter ihnen reckten die Hälse. Lyra sah ihre bleichen Gesichter im Dämmerlicht. Verdutzt und verängstigt stand sie da und biss sich auf die Lippen, während Will, das Gesicht nahe an der Messerspitze, tat, wie ihm sein Vater geheißen hatte. Danach schnitt er einen kleinen Hohlraum in den Felsen einer anderen Welt, legte die kleinen, golden schimmernden Haare hinein und setzte den Felsbrocken wieder an seinen Platz, ehe er das Fenster verschloss.
    Dann begann der Boden zu beben. Irgendwo aus der Tiefe drang ein grollendes, mahlendes Geräusch, als ob sich der Mittelpunkt der Erde wie ein gewaltiger Mühlstein um sich selbst drehen würde, und unvermittelt fielen Gesteinssplitter von der Decke des Ganges. Der Boden neigte sich plötzlich zur Seite. Will ergriff Lyras Arm und hielt sie fest, als der Fels unter ihren Füßen ins Wanken geriet und locker gewordene Steine neben ihnen vorbeirollten und ihnen Beine und Füße zerkratzten.
    Die beiden Kinder warfen sich zu Boden, legten die Arme über den Kopf und schützten die beiden Gallivespier. Doch das Beben unter ihnen schwoll noch an. Solches Entsetzen hatte sie gepackt, dass sie nicht einmal schrien, als die Erde unter ihnen ins Rutschen kam und sie, das Getöse der ins Rollen geratenen Gesteinsmassen in den Ohren, nach unten gezogen wurden.
    Schließlich hörte das Beben auf, obwohl um sie herum noch kleine Gesteinsbrocken einen Hang hinabrollten, der vor einer Minute noch nicht da gewesen war. Lyra lag auf Wills linkem Arm. Mit der Rechten tastete er nach dem Messer. Es steckte immer noch in der Scheide an seinem Gürtel.
    »Tialys? Salmakia?«, rief Will mit unsicherer Stimme.
    »Wir sind hier und leben noch«, sagte die Stimme des Chevaliers gleich neben seinem Ohr.
    Die Luft war staubig und vom Korditgeruch zerschmetterter Felsen erfüllt. Das Atmen fiel ihnen schwer und sehen konnte man überhaupt nichts mehr. Die Libelle war tot.
    »Mr Scoresby?«, sagte Lyra. »Wir können nichts mehr sehen ... Was ist denn passiert?«
    »Ich bin hier«, meldete sich Lee. »Ich nehme an, die Bombe ist losgegangen und hat ihr Ziel nicht erreicht.«
    »Welche Bombe?«, fragte Lyra erschrocken, und dann leiser: »Roger, bist du da?«
    »Ja«, ließ sich ein schwaches Stimmchen vernehmen. »Mr. Parry hat mich gerettet. Ich wäre gefallen, wenn er mich nicht im letzten Augenblick festgehalten hätte.«
    »Schaut, dort vorn«, sagte John Parrys Geist. »Aber haltet euch am Fels fest und bewegt euch nicht.«
    Der Staub lichtete sich allmählich, und von irgendwoher kam Licht ein schwacher goldener Schimmer wie ein leuchtender Regen, der über ihnen niederging. Was sie nun sahen, erfüllte sie mit Schrecken, denn links von ihnen gähnte ein Abgrund, in den Schutt und Gestein wie Wassermassen rollten, die über eine Felskante in die Tiefe schossen. Ein gewaltiges schwarzes Loch hatte sich dort aufgetan, wie ein Schacht in tiefste Finsternis. Die goldenen Lichtstrahlen fielen hinein und verloren sich darin. Man konnte die gegenüberliegende Seite des Lochs erkennen, doch lag die weiter entfernt, als Will einen Stein hätte werfen können. Rechts von ihnen war ein Geröllhang, auf dem lose Steine und abgebrochene Felsbrocken in einem prekären Gleichgewicht lagen. Der Hang zog sich weit in das staubige Zwielicht

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