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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Entsetzen. Nichts konnte sie mehr halten. Dafür war es bereits zu spät.
    Ihr Körper bebte vor Panik. Sie nahm gar nicht mehr wahr, dass sich Geister vor ihr niederwarfen, um sie vielleicht doch noch aufzuhalten. Lyra stob durch sie hindurch wie ein kollernder Stein durch Nebel. Sie bekam auch nicht mit, wie Will ihren Namen so laut rief, dass der ganze Abgrund davon widerhallte. Sie war nur noch ein Bündel Angst, während sie immer schneller abwärts rutschte. Auch manchen Geistern wurde es zu viel. Sie hielten sich die Augen zu und schrien. Will war vor Furcht wie gebannt. Er sah, wie Lyra immer tiefer rutschte, und wusste, dass er nichts dagegen tun konnte und untätig zuschauen musste. Er hörte nicht die Verzweiflungsschreie aus seinem eigenen Mund. Noch zwei Sekunden - noch eine Sekunde - sie erreichte den Rand, sie konnte nicht anhalten, gleich würde sie fallen…
    Da stieß aus dem Dunkel das Wesen herab, dessen Krallen Lyra noch vor kurzem eine Wunde am Kopf geschlagen hatten: die Harpyie Niemand mit dem Gesicht einer Frau und den Flügeln eines Vogels. Mit denselben Krallen ergriff sie nun fest die Hand des Mädchens. Zusammen sackten sie nach unten, das zusätzliche Gewicht war selbst für solch starke Schwingen fast zu viel. Doch die Harpyie schlug die Flügel, so stark sie konnte, ohne den Griff der Krallen zu lockern. Langsam trug sie das Kind aus dem Abgrund heraus und legte es, reglos und halb ohnmächtig, in Wills Arme. Als er sie fest an die Brust drückte, spürte er ihren wilden Herzschlag. Sie war jetzt nicht nur Lyra und er nicht nur Will: Sie war mehr als ein Mädchen und er mehr als ein Junge. Die beiden waren die einzigen menschlichen Wesen vor diesem Abgrund des Todes, hielten sich aneinander fest, und die Geister versammelten sich um sie herum, flüsterten ihnen Trostworte zu und priesen die Harpyie. Ganz in ihrer Nähe drängten Wills Vater und Lee Scoresby nach vorn und sehnten sich danach, die Kinder ebenfalls zu umarmen. Tialys und Salmakia sprachen zu Niemand, dankten ihr und nannten sie ihre großherzige Retterin.
    Sobald Lyra wieder gehen konnte, legte sie die Arme um den Hals der Harpyie und küsste ihr vielmals das entstellte Gesicht. Reden konnte sie nicht. Ihre Sprache, ihr Selbstvertrauen und ihre Eitelkeit - alles war ihr abhandengekommen.
    Ein paar Minuten lang ruhten die Kinder sich aus. Nachdem sich der Schrecken wieder gelegt hatte, zogen sie weiter. Will hielt Lyras Hand mit seiner gesunden Hand fest und prüfte erst jede Stelle auf ihre Belastbarkeit, ehe sie weiterkrochen. Das war so mühsam und kostete so viel Zeit, dass sie schon glaubten, vor Erschöpfung zugrunde gehen zu müssen. Doch an eine Rast war nicht zu denken, denn sie mussten weiter. Wie hätte man sich in der Nähe dieses schrecklichen Abgrunds ausruhen können?
    Nach einer weiteren Stunde dieser Mühsal sagte er zu ihr:
    »Schau mal, da vorn scheint es einen Ausgang zu geben ... « Und wirklich: Der Untergrund wurde fester, so dass ihnen das Klettern leichter fiel. Und vor ihnen, war da nicht ein Knick in der Felswand? Sollte das tatsächlich ein Ausgang sein?
    Lyra schaute in Wills leuchtende Augen und lächelte.
    Sie stiegen immer höher und mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter vom Abgrund. Auch wurde der Boden stetig sicherer, Hände und Füße fanden besseren Halt. Bald brauchten die beiden nicht mehr zu befürchten, sich auf dem Geröll Hand- oder Fußgelenk zu verstauchen.
    »Wir dürften jetzt ein gutes Stück weit gekommen sein«, sagte Will. »Ich könnte das Messer nehmen und herausfinden, in was für einer Welt ich herauskomme.«
    »Jetzt noch nicht«, sagte die Harpyie. »Wir müssen noch weiter. Das hier ist kein guter Platz für ein Fenster. Weiter oben ist es besser.«
    Sie krochen schweigend weiter: Hand, Fuß, Gewicht verlagern, einen Schritt vor, Boden testen, Hand, Fuß ... Die Finger waren inzwischen aufgeschürft, Knie und Hüften zitterten vor Anstrengung, der Kopf brummte und tat weh. Die Kinder kletterten die letzten Meter bis zum Fuß der Felswand, wo ein schmaler Hohlweg in den Schatten führte.
    Lyra schaute mit brennenden Augen zu, wie Will das Messer hervorholte und in der Luft nach einer geeigneten Stelle suchte, mit der Spitze fühlte, sie wieder wegzog und erneut fühlte.
    »Aha«, sagte er.
    »Hast du eine geeignete Stelle gefunden?«
    »Ich glaube ja ...«
    »Will«, sagte der Geist seines Vaters, »warte einen Augenblick. Hör mir zu.«
    Will legte das Messer

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