Das Bernstein-Teleskop
allerdings noch nie begegnet, deshalb würde ich es mir gern näher ansehen.«
Will und der Bärenkönig standen in den warmen Strahlen der Abendsonne auf dem Vorderdeck des Flussdampfers. Das Schiff machte rasche Fahrt stromaufwärts, sie hatten genügend Kohlen an Bord, außerdem Proviant, den auch Will essen konnte, und der Junge begegnete Iorek Byrnison jetzt zum zweiten Mal. Das erste hatten sie ja schon hinter sich.
Will reichte Iorek das Messer mit dem Griff voran, und der Bär nahm es vorsichtig entgegen. Da seine Daumenkralle den vier Fingerkrallen gegenüberstand, konnte er genauso geschickt greifen wie ein Mensch. Er wandte die Klinge in der Tatze hin und her, hielt sie sich dicht vor die Augen und dann ins Licht und probierte die stählerne Schneide an einem Eisenstab aus.
»Mit dieser Schneide hast du durch meinen Helm geschnitten«, sagte er. »Die andere kommt mir sehr merkwürdig vor. Ich weiß nicht, woraus sie besteht, wie sie geschmiedet wurde oder was sie kann, aber ich wüsste es gern. Wie bist du in den Besitz dieses Messers gekommen?«
Will berichtete ihm, was er erlebt hatte. Er ließ nur das aus, was allein ihn betraf: seine Mutter, den Mann, den er getötet hatte, und seinen Vater.
»Du hast darum gekämpft und zwei Finger verloren?«, fragte der Bär. »Zeig mir die Wunde.«
Will streckte ihm die Hand entgegen. Dank der Salbe seines Vaters heilten die Stümpfe gut, doch waren sie immer noch sehr empfindlich. Der Bär roch daran.
»Blutmoos«, meinte er. »Und noch etwas, das ich nicht kenne. Wer hat dir das gegeben?«
»Ein Mann, der mir sagte, was ich mit dem Messer tun solle, und dann starb. Er hatte eine Salbe, und damit heilte die Wunde. Die Hexen versuchten das auch, aber ihr Zauber wirkte nicht.«
»Und was sollst du mit dem Messer tun?« Byrnison gab es ihm vorsichtig zurück.
»In einem Krieg auf der Seite Lord Asriels kämpfen«, erwiderte Will. »Aber zuerst muss ich Lyra retten.«
»Dabei helfe ich dir«, sagte der Bär und Wills Herz machte einen Satz vor Freude.
In den folgenden Tagen erfuhr Will, warum die Bären die Reise nach Zentralasien machten, das so weit von ihrer Heimat entfernt war.
Seit jener Katastrophe, die die Welten aufgesprengt hatte, schmolz das Eis der Arktis und neue, seltsame Strömungen erfassten das Wasser. Da die Bären auf das Eis und die im kalten Meer lebenden Tiere angewiesen waren, wussten sie, dass sie, wenn sie blieben, bald verhungern würden. Als vernünftige Wesen hatten sie beschlossen, dass sie etwas unternehmen mussten. Sie würden dorthin ziehen, wo es noch ausreichend Schnee und Eis gab, zu jenen höchsten Bergen, jenem an den Himmel rührenden Gebirge, das eine halbe Welt entfernt lag, aber unerschütterlich und in alle Ewigkeit tief mit Schnee bedeckt war. Aus Bären des Meeres würden Bären der Berge werden, so lange, bis die Welt sich wieder beruhigt hatte.
»Ihr zieht also nicht in den Krieg?«, fragte Will.
»Unsere alten Feinde sind zusammen mit den Seehunden und Walrössern verschwunden. Wenn wir neuen Feinden begegnen, wissen wir, was wir zu tun haben.«
»Ich dachte, es kommt ein großer Krieg, in dem alle kämpfen müssen. Auf welcher Seite würdet ihr stehen?«
»Auf der für die Bären vorteilhaftesten, auf welcher sonst? Doch respektiere ich auch einige von euch Menschen. Zum einen einen Ballonfahrer. Er ist tot. Dann die Hexe Serafina Pekkala und drittens das Kind Lyra. Erstens würde ich tun, was den Bären nützt, zweitens, was dem Kind oder der Hexe nützt oder meinen toten Kameraden Lee Scoresby rächt. Deshalb helfe ich dir, Lyra aus den Händen dieser schlimmen Frau namens Coulter zu retten.«
Er berichtete Will, wie er und einige seiner Untertanen zur Mündung des Flusses geschwommen waren, mit Gold das Schiff gemietet und die Besatzung angeheuert hatten und dann den sinkenden Wasserspiegel der Arktis insofern für sich ausgenutzt hatten, als sie auf dem umgekehrten Fluss so weit wie möglich landeinwärts fuhren - und da der Fluss in den nördlichen Ausläufern eben jener Berge entsprang, zu denen sie unterwegs waren und in denen auch Lyra gefangen gehalten wurde, hatte sich bisher alles zu ihrem Vorteil entwickelt.
So verging die Zeit.
Am Tag döste Will an Deck und ruhte sich aus, um wieder zu Kräften zu kommen, denn er war vollkommen erschöpft. Er beobachtete, wie sich die Landschaft um ihn allmählich veränderte, wie die weite Steppe allmählich in niedrige, grasbewachsene Hügel
Weitere Kostenlose Bücher