Das Bernstein-Teleskop
und dann Berge mit hin und wieder einer Schlucht oder einem Wasserfall überging. Und immer noch fuhr das Schiff nach Süden.
Der Junge unterhielt sich auch mit dem Kapitän und der Besatzung, doch nur aus Höflichkeit. Umgang mit Fremden fiel ihm nicht so leicht wie Lyra, er wusste nicht, was er sagen sollte, und die anderen interessierten sich nicht allzu sehr für ihn. Für sie bedeutete der Schiffsdienst nur Arbeit, und wenn die vorbei war, würden sie verschwinden, ohne sich noch einmal umzudrehen. Außerdem mochten sie die Bären trotz ihres Goldes nicht. Will war Ausländer, und solange er für das, was er aß, bezahlte, konnte er tun und lassen, was er wollte. Der Junge hatte einen seltsamen Dæmon, der auffallend dem Dæmon einer Hexe ähnelte: Er war manchmal da, und manchmal ließ er sich nirgends blicken. Abergläubisch wie viele Matrosen, ließen sie ihn deshalb nur zu gern in Ruhe. Auch Balthamos für seinen Teil verhielt sich ruhig.
Manchmal, wenn der Kummer ihn überwältigte, verließ er das Schiff, flog zu den Wolken hinauf und suchte nach einer hellen Stelle oder einem bestimmten Geruch, einer Sternschnuppe oder einer Wolkenformation, die ihn an die gemeinsame Zeit mit Baruch erinnerte. Wenn er sich abends in der kleinen Kabine, in der Will schlief, zu Wort meldete, dann nur, um über den Fortgang der Reise zu berichten und darüber, wie weit es noch bis zu der Höhle und dem Tal war. Vielleicht glaubte er, bei Will keinen Trost zu finden, obwohl er ihn, wenn er ihn gesucht hätte, überreich gefunden hätte. So wurde er zunehmend kurz angebunden und förmlich, allerdings nie ironisch; dieses Versprechen zumindest hielt er ein.
Iorek unterdessen beschäftigte sich unermüdlich mit dem Messer. Er betrachtete es stundenlang, prüfte die Schneiden, bog die Klinge, hielt es ins Licht, berührte es mit der Zunge, roch daran und lauschte sogar auf das Geräusch der Luft, die über die Klinge strich. Will hatte keine Angst um das Messer, denn Iorek schien sich auf Metalle zu verstehen wie kein Zweiter, und auch um Iorek brauchte er sich keine Sorgen zu machen, so geschickt hantierte er mit den mächtigen Tatzen.
»Die andere Schneide«, sagte Iorek eines Tages zu Will. »Du hast mir nicht gesagt, was man damit tun kann.«
»Ich kann es dir hier nicht zeigen, weil das Schiff sich bewegt«, erwiderte Will. »Sobald wir anhalten, hole ich das nach.«
»Ich kann es mir zwar denken«, sagte der Bär, »aber ich verstehe nicht, was ich denke. Ich habe noch nie etwas so Eigenartiges gesehen.«
Er gab Will das Messer zurück und starrte ihn verwirrend lange mit einem unergründlichen Blick seiner tiefschwarzen Augen an.
Der Fluss änderte seine Farbe, weil er auf die Überreste der ersten Flut aus der Arktis traf. Die Erdstöße hatten das Land verschieden stark in Mitleidenschaft gezogen. Ein Dorf nach dem anderen stand bis zu den Dächern im Wasser, und Hunderte obdachlos gewordener Menschen versuchten mit Ruderbooten und Kanus zu retten. was zu retten war.
Offenbar war der Erdboden hier eingesunken, denn der Fluss wurde breiter und langsamer, und der Kapitän hatte Mühe in den trüben Wassermassen den richtigen Kurs zu finden. Es wurde heißer, die Sonne stand höher am Himmel, und die Bären versuchten mit allen Mitteln sich zu kühlen. Einige schwammen neben dem Schiff im Wasser, das nach ihrer Heimat schmeckte.
Doch dann wurde der Fluss wieder enger und tiefer, und bald ragten vor ihnen die Gipfel des großen zentralasiatischen Gebirges auf. Will beobachtete, wie eines Tages am Horizont ein weißer Rand auftauchte, der größer wurde, bis er Gipfel, Kämme und Pässe unterscheiden konnte. Die Berge waren so gewaltig, dass sie ganz nah erschienen und nur wenige Kilometer entfernt, obwohl sie in Wirklichkeit noch weit entfernt la gen. Es waren riesige Berge, und mit jeder Stunde, die sie näher kamen, wuchsen sie in noch Schwindel erregendere Höhen. Die meisten Bären hatten noch nie Berge gesehen, von den Klippen ihrer Insel Svalbard abgesehen. Stumm starrten sie auf die fernen Kolosse.
»Was sollen wir dort jagen, Iorek Byrnison?«, fragte einer. »Gibt es in den Bergen Seehunde? Wovon sollen wir leben?«
»Es gibt dort Schnee und Eis«, erwiderte der König. »Wir werden uns schon zurechtfinden. Außerdem gibt es dort jede Menge wilder Tiere. Wir müssen uns eine Zeit lang umstellen, aber wir werden überleben, und wenn alles wieder so ist, wie es sich gehört, und die Arktis zufriert, werden
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