Das Bernsteinerbe
er.
Ohne sein Gesicht zu sehen, wusste sie, wie die Kerbe an seinem Kinn tief in die Haut schnitt, die grauen, leicht hervorstehenden Augen vor Traurigkeit überquollen. Wie gern hätte sie ihm über die Wangen gestrichen und es ihm erklärt. Hilflos schlang sie die Arme um ihn, presste das tränennasse Gesicht gegen seine breiten, weichen Schultern und betrank sich an seinem herben Geruch.
»Ist ja schon gut«, sagte er sanft.
»Ich liebe dich!« Verwirrt sprang sie auf und lief davon.
5
E ndlich allein! Carlotta atmete auf, als sie die Tür der Wohnstube hinter sich schloss. Wie sie gehofft hatte, war der große Raum mit der niedrigen Decke über dem Kontor leer. Die Stille tat gut. Seit dem frühen Morgen hatte sie die geschäftige Unruhe inmitten der Schreiber und Kaufmannsgenossen ausgehalten. Wie lechzte sie danach, sich endlich dem zu widmen, was ihr das Liebste war: Tinkturen und Salben aus der Wundarztkiste zu sortieren. Wenn sie ehrlich war, tat sie das inzwischen weniger der Arzneien wegen als darum, weil sie sich dann Christoph nahe fühlte. Kaum dachte sie seinen Namen, spürte sie sofort das wundervolle Kribbeln im Bauch, roch seinen Duft, fühlte seine Nähe. Sie wollte tanzen vor Wonne. Wenn sie ihn nur bald wiedersah! Verzückt schloss sie die Augen, um zu träumen. Stimmen in der Diele rissen sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sollte sich schleunigst der Wundarztkiste widmen. Gleich war ihr, als läge der Geruch nach Wacholder, Lorbeer, Rosen- und Veilchenöl und venezianischen Seifen in der Luft. Wie gut ließe sich beim Sortieren der Kräuter ihre Träumerei kaschieren.
Ihr Blick wanderte über den langen Eichenholztisch mit den acht kunstvoll gedrechselten Stühlen in der Mitte des Raumes. Ein üppiger Strauß Herbstblumen prangte in einer Vase. Kein Wunder, dass sie meinte, es duftete bereits nach ihren Tinkturen! Sie sah hinüber zum Tresor auf der rechten Stirnseite. Der wuchtige Schrank aus dunkel gebeiztem Nussbaumholz stammte aus dem Wohnhaus in Frankfurt am Main. Seit diesem Sommer erst bereicherte er das Inventar in der Kneiphofer Langgasse. Die langgestreckte Stube mit der weißgetünchten Decke beherrschte er vollends. In wenigen Schritten stand Carlotta davor und kramte mit zittrigen Fingern den Schlüssel aus der Rocktasche. Hinter der Tür im mittleren Teil des Möbels verbarg sich das Fach, in dem die Mutter ihre kostbaren Wundarztutensilien verwahrte. Dreimal drehte sich der Schlüssel knirschend im Schloss, dann sprang die Tür auf. Zufrieden beäugte Carlotta die zutage tretenden Schätze. Flugs lud sie sich eine erste Auswahl an Tiegeln und Phiolen auf den Arm und wandte sich zum Tisch, um sie dort sorgfältig nebeneinander aufzureihen. Den letzten Tonkrug hielt sie sich andächtig vor Augen: Darin befanden sich die spärlichen Reste der uralten Wundersalbe, die die Mutter einst von ihrem Wundarztlehrherrn, Meister Johann, geerbt hatte. Bis zum heutigen Tag hofften sie, das Geheimnis der verzwickten Rezeptur zu entschlüsseln, bevor auch der letzte Tropfen aufgebraucht war. Noch einmal hielt sie den Tiegel prüfend gegen das Licht, dann stellte sie ihn behutsam zu den anderen. Bevor sie den Tresor wieder verschloss, entnahm sie dem Fach noch ein grobgebundenes Buch sowie Tintenfass und Federkiel.
Am Kopfende des Tischs legte sie die Schreibutensilien bereit, zögerte allerdings, ihr Vorhaben zu beginnen. Etwas störte sie noch. Sie betrachtete die Tiegel und Töpfe, dann Tintenfass und Buch. Auf einmal wusste sie es. Das Licht! Die drei doppelflügeligen Fenster der Wohnstube waren zur Straßenseite nach Osten ausgerichtet. Milchig-trüb fiel das Spätnachmittagslicht herein, viel zu schwach, um die Konsistenz der Rezepturen genau betrachten zu können. Geschwind eilte Carlotta zu den Fenstern und zog die dünnen Gazevorhänge zurück. Rasch hellte sich der Raum auf. Sie sah noch einmal nach draußen, erst auf die Langgasse, dann hoch zum Himmel. Es würde noch einige Zeit dauern, bis die Dämmerung einsetzte. Beiläufig bemerkte sie die Schlieren auf den Scheiben und lächelte. Die zeugten wohl noch von Millas vergeblichem Versuch, die Fenster zu Hedwigs Zufriedenheit zu putzen. Es besser zu machen, dafür war nun Lina als zweite Magd im Haus. Carlotta freute sich noch immer, dass die Mutter sie aufgenommen hatte. Die vertrauten Gespräche mit dem nur wenige Jahre älteren Mädchen kurz nach ihrer Ankunft in Königsberg verwahrte sie in bester Erinnerung.
»Lasst nur,
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