Das Bernsteinerbe
gleichmäßig, also schlief auch sie nicht. Ein leiser Seufzer verriet, wie sehr sie wohl ebenfalls noch mit dem Gespräch beschäftigt war.
»Thiesler hat mir vorhin übrigens selbst bestätigt, wie gut er sich fühlt. Bei der Prügelei mit Mathias hat er viele Schläge eingesteckt. Der harte Aufprall auf dem eisigen Boden hat ihm sogar für lange Zeit die Besinnung geraubt. Dennoch war die Platzwunde an seinem Schädel nicht sonderlich groß. Er klagt nicht einmal über Kopfschmerzen, was mir nach den beiden Tagen im holprigen Planwagen das eigentliche Wunder zu sein scheint. Zur Sicherheit habe ich ihm von den bitteren Tropfen mitgegeben. Wenn er die noch einige Tage lang nimmt, wird er bald wieder völlig hergestellt sein.«
»Lass gut sein, Liebes«, flüsterte die Mutter und fasste nach ihrer Hand. »Deiner Pflicht als Wundärztin bist du in bestem Umfang nachgekommen. Daran habe ich nie gezweifelt. Nicht einmal eine auffällige Narbe wird er davontragen, so sorgfältig hast du die Wunde versorgt. Es freut mich wirklich zu hören, wie wohl er sich inzwischen fühlt. Es war ihm auch anzusehen. Doch darfst du nicht vergessen, dass Tromnau und Hohoff ihn bedrängt haben, so schnell wie möglich weiterzureisen. Mit eigenen Ohren habe ich gehört, wie sie ihm angedroht haben, ihn andernfalls nach Königsberg zurückzuschicken. Jedermann weiß, wie eilig er es hatte, schnell weit weg von seinem Vater und Königsberg zu gelangen. Es gibt sogar Gerüchte, dort habe ihm wegen irgendwelcher Vorfälle mit anderen Studenten der Kerker gedroht. Kein Wunder also, dass er es vorgezogen hat, den frisch Genesenen zu spielen.«
»Aber doch nicht Thiesler!«, entrüstete sich Carlotta. Sogleich standen ihr die vielen Händel zwischen Pennälern und älteren Senioren vor Augen. Sie dachte an den armen Studenten, dem sie vor einiger Zeit im Dom begegnet war, als der von älteren Semestern bedroht worden war. Unvorstellbar, dass Thiesler bei solchen Streichen mittat. »Gerade du findest ihn doch so nett, Mutter. Wie kannst du dann das von ihm behaupten?«
»Mit keinem Wort habe ich ihm dergleichen zugetraut. Ich habe dir lediglich erzählt, was andere über ihn munkeln. Schließlich spüre ich gerade am eigenen Leib, wie schnell böses Gerede über einen entsteht, ohne dass auch nur ein Funke Wahrheit daran ist. Doch lass gut sein, Liebes, wir sollten uns jetzt nicht auch noch Thieslers wegen streiten.«
»Wir sollten uns eigentlich überhaupt nicht streiten«, stellte Carlotta klar. »Gerade jetzt sind wir beide aufeinander angewiesen.«
»Du hast recht, mein Kind«, pflichtete Magdalena bei und rutschte näher zu ihr. »Warum bist du eigentlich immer die Besonnenere von uns beiden, die viel eher begreift, worauf es ankommt? Dabei bist du erst siebzehn, und ich gehe auf die vierzig zu.«
»Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich deine Tochter bin und das von dir gelernt habe?«
»Oder aber von deinem Vater.«
»Ich weiß nicht«, erhob Carlotta doch noch einmal Widerspruch, »so, wie ich ihn erlebt habe, war er wohl selten sehr besonnen. Denk nur an die Jahre, die er verschwunden war und über die er nie etwas erzählt hat, nicht einmal, als er im Sterben lag.«
Eine Zeitlang sagte die Mutter nichts. Carlotta fürchtete bereits, sie abermals vor den Kopf gestoßen zu haben. Dann aber räusperte sich Magdalena und flüsterte heiser: »Ich fürchte, wir können beide nicht viel mit besonnenen Männern anfangen. Sowenig, wie dein Christoph es schafft, dir seine Liebe auf friedvollem Weg zu beweisen, sowenig ist es wohl deinem Vater gelungen, mir je mit Besonnenheit zu erklären, was ihn immer wieder von mir weggezogen hat. Vielleicht sollten wir es einfach so hinnehmen. Liebe kann einfach nicht mit Besonnenheit gelebt werden. Liebe muss man nehmen, wie sie kommt, mit all ihren Rätseln und Unwägbarkeiten.«
»Dann bist du also mit Christoph einverstanden?«, hakte Carlotta sogleich nach.
»Schon gut, Liebes.« Magdalena drückte ihr die Hand. »Was zählt, ist, dass ihr beide euch liebt und diese Liebe füreinander auch stets zu schätzen wisst.«
»Christoph und ich lieben uns nicht nur, wir beide haben sogar einen gemeinsamen Traum«, erklärte Carlotta feierlich. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, standen die Pläne wieder deutlich vor ihr: sie und Christoph gemeinsam in einer großen Bibliothek mit vielen dicken Büchern über Medizin, Heilkunde und den menschlichen Körper. Gemeinsam lasen und diskutierten
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