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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Geschöpfen kann man sich einfach nicht sattsehen. Allein die Tatsache, wie sich die Punkte, Linien und Striche bei Tieren derselben Art wiederholen, versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Aber auch diese Gemmen sehe ich mir stets gerne an«, fuhr er fort und zeigte auf den Schaukasten zu ihrer Linken. »Von den Schnitzereien aus Elfenbein ganz zu schweigen. Ist es zu fassen, wie zart diese Stücke angefertigt sind? Mit bloßem Auge ist ihre ganze Pracht kaum zu fassen. Teilweise sind diese Kostbarkeiten übrigens schon mehrere hundert Jahre alt. Könnten sie uns erzählen, was sie alles gesehen haben, würden wir andächtig vor ihnen zu Boden sinken.«
    Seine grünen Augen blickten schwärmerisch. Carlotta meinte, selten solche Begeisterung bei einem erwachsenen Mann erlebt zu haben.
    »Vielleicht sollten meine Mutter und ich vor Euch in die Knie gehen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Immerhin könnt Ihr uns ebenfalls viel erzählen. Eure Berichte über all die Länder, die Ihr bereist, und all die Völker, die Ihr gesehen habt, werden Monate in Anspruch nehmen, wenn Ihr überhaupt davon erzählen wollt.« Wissbegierig sah sie ihm in die Augen. Wieder meinte sie, einen Anflug von Unsicherheit darin zu erkennen.
    »Ach, ich weiß nicht«, entgegnete er auf einmal seltsam matt. »Was soll das bringen, von all den Erlebnissen so genau zu erzählen.«
    »Wie meint Ihr das, verehrter Hartung?« Seine ablehnende Haltung weckte Carlottas Neugier erst recht. »Ich stelle es mir sehr interessant vor, bis in die entlegensten Winkel der Erde vorzudringen und die verschiedenen Tiere, Menschen, Bräuche und Sitten kennenzulernen, all das Fremde, Unbekannte einmal mit eigenen Augen zu sehen.«
    »Das Schlimme daran ist«, mittlerweile wirkte Hartung regelrecht traurig, »dass es leider gar nicht so viel Fremdes und Unbekanntes in den hintersten Winkeln der Welt zu bestaunen gibt. Wenn man einige Zeit unterwegs war, wird man all der Eindrücke bald müde. Meist läuft es auf dasselbe hinaus: Überall herrschen Gier, Neid und Unfrieden, ganz gleich, in welcher Ecke der Welt. Die wenigsten Völker geben sich zufrieden mit dem, was Gott, der Allmächtige, ihnen zugeteilt hat. Stattdessen bekriegen sie ihre Nachbarn allein in der Hoffnung, dadurch Ruhm und Reichtum zu mehren.«
    »Mir scheint, Ihr seid dem selbst nicht abgeneigt. Wie sonst habt Ihr all diese Schätze anhäufen und hier in diesem prächtigen Haus unterbringen können?«
    »Carlotta!« Die Mutter zupfte sie mahnend am Ärmel. Hartung dagegen schien nicht böse. Im Gegenteil. Endlich huschte wieder ein Lächeln über sein faltiges Gesicht. Er räusperte sich in die Faust, verschränkte dann die Hände auf dem Rücken und erwiderte: »Mit großer Freude, mein Kind, erkenne ich an jedem einzelnen Eurer Worte, dass Ihr die Tochter Eures Vaters seid. Auch mit ihm habe ich oft über diese Beobachtungen gesprochen. Gerade wenn er mir ein neues ausgefallenes Stück für meine Sammlung aus Afrika …«
    »Das heißt, mein verstorbener Gemahl hat Euch hier oben am Frischen Haff mehrfach besucht?« Aufgeregt nestelten Magdalenas Finger am Damast ihres reich von Rosenmustern durchwirkten Witwenkleids herum.
    »Oh, verzeiht, ich wusste nicht … Ich dachte, Ihr wüsstet das alles. Hat er Euch denn nichts davon gesagt? Aber warum hat er ein Geheimnis daraus gemacht? O Gott, was habe ich da nur angerichtet! Es tut mir leid.« Er wischte sich über die feuchte Stirn.
    »Ist schon gut«, murmelte Magdalena kaum hörbar und sah aus dem Fenster.
    Die Augen des weißhaarigen Kaufmanns wanderten verlegen im Raum umher. Sein Gesicht hatte sich ebenfalls dunkelrot verfärbt. Mehrfach rieb er sich über das glattrasierte Kinn, als könne er dadurch die Worte ungesagt machen, und blickte ebenfalls durch eines der Fenster in den wolkenverhangenen Winterhimmel.
    Carlotta wurde die Stille in dem vollgestellten Raum unheimlich. Im Delfter Kachelofen knackte das Feuerholz, aus der Diele drangen gedämpfte Geräusche herein. Kaum wusste sie, wohin sie sich wenden sollte. In allen Ecken des Kabinetts begegneten ihr ins Leere starrende Augen, aufgespießte Schmetterlinge und ausgestopfte Tierkadaver. In den Regalen und Fächern lagen giftige Pfeilspitzen sowie furchterregende Waffen, jederzeit zum Töten bereit. Kein Wunder, angesichts dessen am Sinn des Reisens und Entdeckens zu verzweifeln! Sie schnaufte. Warum hatte der Vater nie davon erzählt?
    Im Stillen ging Carlotta die Frankfurter Jahre

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