Das Bernsteinerbe
nehmen, indem sie gar nicht über das Wie nachdachte. Er wurde nicht grob und schien es auch nicht eilig zu haben, ihr unter die Röcke zu greifen. Dafür aber verstand er sich bestens aufs Küssen. Der Lärm um sie her rief ihr leider viel zu schnell ins Gedächtnis, dass sie dazu gerade weder am rechten Ort noch zur rechten Zeit waren. Von der nahen Turmuhr setzte das Zehnuhrläuten ein.
»Höchste Zeit«, riss sie sich schweren Herzens los. »Ich muss zurück. Hedwig wird sich wundern, wo ich so lange bleibe.«
»Du hast recht. Am Ende wähnt sie dich noch im Getümmel der herangaloppierenden Kurfürstlichen verloren.«
»So schnell werden sie wohl kaum hier sein. Von Pillau aus brauchen sie noch ein paar Tage.«
»Du kennst dich wohl aus?«
»Nicht mit den Kurfürstlichen«, erwiderte sie knapp und merkte zu spät, dass er das falsch verstehen konnte. »Aber die Strecke von Pillau bin ich früher oft genug mit meinem Vater gekommen. Er ist nämlich Fischer«, setzte sie hinzu und hoffte, Steutner mit diesem Eingeständnis ihrer niederen Herkunft nicht zu verschrecken. Wieder aber lächelte er sie einfach nur an. Erleichtert atmete sie auf. »Trotzdem sollten wir hier nicht Wurzeln schlagen. Auch wenn die Kurfürstlichen noch ein paar Tage unterwegs sind, brauchen wir alle heute etwas zu essen.«
Erster Teil B
Der Aufstand
Königsberg
Herbst 1662
11
I n der Diele wurden Stimmen laut, kurz darauf wurde die Eichenholztür geöffnet. Angeführt von dem dürren Egloff kehrten die drei Schreiber von ihrem morgendlichen Imbiss zurück. Schweigend nickten sie Carlotta zu und bauten sich hinter den Pulten auf, um mit der unterbrochenen Arbeit fortzufahren. Ein-, zweimal wurde noch gehustet, mit Papier geraschelt oder mit dem Federkiel im Tintenfass gerührt, dann senkte sich die gewohnte geschäftige Stille über das Kontor. Bald war nur mehr das gleichmäßige Kratzen der Federn auf dem groben Papier zu hören.
Carlotta atmete auf. Die Alltäglichkeiten im Kontor hatten etwas Beruhigendes. Darüber rückte die zunehmende Unruhe im Kneiphof in weite Ferne. Sie versenkte sich ebenfalls wieder in ihre Arbeit, zog einen abschließenden Strich unter die Signatur auf dem Schreiben. Jetzt fehlte nur noch das Siegel. Damit hatte sie alle Aufgaben für diesen Vormittag erledigt. Neidisch lauschte sie auf das eifrige Tun der anderen und wischte mit einem Leintuch die Schiefertafel sauber. Bis der Bursche kam, die Briefe abzuholen, blieb noch viel Zeit. Sie schüttelte das Leintuch aus und klopfte den Kreidestaub aus Händen und hellgrünem Kleid. Gelangweilt spielte sie mit der Schreibfeder, rückte das Tintenfass auf der Ablage hin und her, schüttelte zum hundertsten Mal die Löschsanddose auf. Die Zeit bis Mittag dehnte sich ins Unendliche. Voller Ungeduld starrte sie zum Fenster hinaus.
Insgesamt vier doppelflügelige Bleiglasfenster erstreckten sich zur Straßenfront. Gleißendes Sonnenlicht fiel an diesem letzten Mittwoch im Oktober durch die blankpolierten Scheiben auf die Schreibpulte. In der trockenen Luft tanzten unzählige Staubflusen. Noch immer verwöhnte der goldene Herbst die reiche Kaufmannsstadt am Pregel großzügig mit seiner Gunst. Milde Temperaturen täuschten über das Nahen des Winters hinweg. Sehnsüchtig beobachtete Carlotta das quirlige Treiben auf der Langgasse. An der gegenüberliegenden Hausecke rief ein Bursche die neueste Ausgabe des Europäischen Mercurius aus. Wie so oft in den letzten Tagen sammelte sich eine Schar Neugieriger um ihn, um die wichtigsten Neuigkeiten über den Streit mit dem Kurfürsten zu erfahren. Noch wollte niemand so recht glauben, dass er es tatsächlich wagte, mit seinen Soldaten auf die Stadt zu marschieren. Möglicherweise lenkte nach der Altstädter auch die Löbenichter Bürgerschaft ein und zeigte sich bereit, nicht nur die geforderten Abgaben zu zahlen, sondern künftig auch auf ihr Mitspracherecht zu verzichten. Carlotta seufzte. Eigentlich war es eine aufregende Zeit, viel zu schade, um im Kontor zu sitzen und die Zeit totzuschlagen. Sie dachte daran, wie ihr während der Zusammenkunft der Bürger letztens im Junkergarten der Einfall mit den Särgen gekommen war. Für eine Weile wenigstens hatte sie etwas Sinnvolles tun können. Schweren Herzens ließ sie den Blick zurück ins Kontor schweifen.
Die Schreiber Egloff, Breysig und Steutner hielten die Köpfe brav über die Pulte gesenkt. Von einer nahen Kirchturmuhr schlug es zehn, auch der große Zeiger an
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