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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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der Wanduhr rückte mit einem lauten Knacken vor. Um diese Zeit sollte Christoph bei seinem Patienten Goldschmied Ditmer eintreffen. Dessen Haus lag nicht weit entfernt. Bis die Mutter ins Kontor zurückkehrte, bliebe noch Zeit für einen heimlichen Ausflug. Wenn sie es geschickt anstellte, fiel ihr Weggehen nicht einmal auf. Sie musste Christoph sehen, noch an diesem Morgen, dringend!
    Unauffällig musterte sie die Männer an ihren Pulten. Am nächsten zu ihr beugte der dürre Egloff den knochigen Rumpf über die Papiere. Lautlos bewegte er die blassen Lippen, formte Silbe um Silbe, während seine Spinnenfinger an den Zeilen entlangwanderten, jeden einzelnen Schwung der Buchstaben nachfuhren. Daneben schnaufte der dickbäuchige Breysig. Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß, die Wangen waren puterrot angelaufen. Angestrengt addierte er die Zahlenkolonnen, schrieb mit quietschender Feder das Ergebnis ans Ende der Reihe. Auch der junge Steutner wirkte ganz in seine Rechnerei versunken. Die riesigen Füße scharrten über den Holzboden, wie um das Rechnen zu beschleunigen. Wenn sie die drei so betrachtete, schienen sie viel zu beschäftigt, sich um sie zu kümmern. Christophs weiche Gesichtszüge und sein spitzbübisches Lächeln vor Augen, griff Carlotta nach dem Schal. In wenigen Augenblicken würde sie ihn sehen, mit ihm gemeinsam zu Ditmer gehen und dabei feststellen, wie falsch Hedwig mit ihren Vermutungen lag. Da war mehr als nur das gemeinsame Interesse am Heilberuf, das sie verband. Sie liebten einander, so einfach war es.
    Der junge Steutner sah auf, unterbrach das Scharren mit den Stiefeln. Als sich ihre Blicke begegneten, zwinkerte er ihr zu und legte die Feder ab. Seine Mundwinkel umspielte ein freches Grinsen, als wisse er, was sie vorhatte. Wollte er ihr etwa folgen? Schweren Herzens beschloss sie zu bleiben. Steutner schnaubte enttäuscht. Das verschaffte ihr wenigstens etwas Genugtuung. Sie beschloss, die Briefe an andere Handelskontore ein weiteres Mal gründlich durchzugehen. Bald forderte es wieder ihre volle Aufmerksamkeit, zu prüfen, ob sie die richtige Menge Pelze bei Spaemann in Riga zu dem seit langem ausgehandelten Preis sowie ausreichend Färberkrapp bei Holthusen in Brügge zu den letztjährigen Bedingungen bestellt hatte. Ihre Fingerkuppen glitten an den Zahlenreihen entlang. Wieder und wieder rechnete sie die Summen nach, vergaß darüber endlich Hedwigs Mahnen und die Vorgänge draußen auf der Straße.
    »Das kann nicht stimmen!« Die schnarrende Stimme Egloffs riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken hob sie den Kopf. »Unglaublich! Das ist viel zu viel. Die Zahlen stimmen hinten und vorn nicht.« Die Augen starr auf das Pult gerichtet, fuhr Egloff sich mit den Fingern durch das schüttere Haar und schnalzte mit der Zunge.
    »Worum geht es?« Verwirrt schaute Carlotta ihn an und trat dann entschlossen zu ihm. »Darf ich mal sehen?«
    Verdutzt starrte Egloff sie an. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter und wirkte wie ein kleines Mädchen neben dem hoch aufgeschossenen Mann mit dem strengen Gesicht.
    »Danke für Euer Angebot, verehrtes Fräulein Grohnert.« Egloff lächelte milde, beinahe väterlich, zu ihr herunter. »Es tut mir leid, Euch gestört zu haben. Eigentlich ist es nur eine Kleinigkeit, kaum der Rede wert. Das habe ich gleich selbst.«
    »Eure Erfahrung steht ganz außer Zweifel, verehrter Egloff«, erwiderte Carlotta. »Vier Augen sehen jedoch mehr als zwei. Gebt mir doch einfach das Schreiben. Vielleicht klärt es sich schneller, wenn wir beide draufschauen.«
    »Also gut.« Widerstrebend holte er Luft. »Doktor Petersen, der Apotheker aus Eurer alten Heimatstadt Frankfurt am Main, bestellt doppelt so viel weißen Bernstein wie noch im letzten Jahr. Wahrscheinlich wird er alt und hat sich in der Eile verschrieben. Seine Schrift ist ohnehin schlecht zu lesen. Ich denke, wir liefern ihm die gewohnte Menge, nicht dass wir den teuren Bernstein umsonst so weit verschicken. Die Wege quer durch Polen sind weiterhin sehr gefährlich.«
    »Petersen?« Ihre Finger zitterten, als sie die Zahlen auf dem Briefbogen studierte. Selbst nach all den Jahren war ihr die Handschrift des Apothekers bestens vertraut. Mit einem Blick erfasste sie die verschnörkelten Ziffern. Es stimmte, Petersen bestellte die doppelte Menge Bernstein wie üblich. Sie überflog die Zeilen, die er hinzugefügt hatte. Sie waren direkt an die Mutter gerichtet.
    »Habt Ihr nur die Zahlen geprüft? Eure

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