Das Bernsteinerbe
eines Mannes kann ziemlich lang sein«, sagte Hedwig leise. »Gerade so unterschiedliche Menschen wie Kepler und du sollten sich darüber im Klaren sein. Beide seid ihr klug, aber beide wollt ihr aus ganz verschiedenen Gründen Ärzte sein. Du willst es von Herzen sein, er aber ist es, weil er es sein muss. Um damit zu leben, sollte euch mehr verbinden als nur die Medizin.«
»Natürlich ist da weitaus mehr zwischen Christoph und mir als nur die Medizin! Oder glaubst du allen Ernstes, ich weiß nicht, was es heißt, einen Menschen zu lieben?«
Carlottas Unterlippe bebte, die tiefblauen Augen schwammen in Tränen. Es fiel ihr schwer, einigermaßen klar zu sehen, noch schwerer war es, die Gedanken im Kopf zu sortieren. Rasch griff sie nach den Briefen auf ihrem Pult, an denen sie vorhin gearbeitet hatte, und starrte angestrengt darauf. Hedwig indes blieb schweigend beim Regal stehen. Abermals griff Carlotta zur Feder. Eine Spur zu heftig tauchte sie den Kiel ins Tintenfass. Es klirrte, einige Tropfen Tinte spritzten auf. Die eigene Schrift auf dem Papier vor ihr erschien ihr auf einmal seltsam steil und fremd. Gern hätte sie einen auflockernden Kringel unter die Signatur gesetzt, doch wie vorhin zögerte sie. Erneut schwebte die Feder unentschlossen über den Zeilen.
»Mach keine Dummheiten«, raunte Hedwig ihr zu. »Das ist ein Brief an ein anderes Kontor, nicht wahr? Denk daran, was dein Vater dir einst beigebracht hat. So gern er selbst oft zu Scherzen aufgelegt war, hat er sie doch stets aus den geschäftlichen Angelegenheiten herauszuhalten gewusst. Recht hat er damit gehabt, der gute Eric Grohnert. Es ist nun mal so im Leben: Spaß darf man haben, aber man sollte wissen, wann es ernst wird.«
Noch einmal schenkte sie ihr ein leichtes Kopfnicken, dann trottete sie in ihrem bedächtigen Watschelgang zur Tür.
Den Hinweis auf den Vater hätte sie sich sparen können. Allzu deutlich stand Carlotta vor Augen, wie sich die helle Furche oberhalb von Erics Nasenwurzel einzugraben pflegte, wenn er etwas nicht billigte. Es bedurfte keiner Hellseherei, zu ahnen, wie er es bei der Heirat mit Christoph gehalten hätte: Christophs Hang zur Narretei wäre ihm zu viel gewesen. Sie spürte die Augen feucht werden. Verschämt wischte sie sich die Wangen mit dem Handrücken trocken und schneuzte in ein Taschentuch. Sie straffte sich. Und doch war sie sicher, die richtige Entscheidung zu treffen. Das Bild des sterbenden Vaters trat ihr vor Augen, sie erinnerte sich der letzten Stunden, bis ihm die tiefgründigen blauen Augen brachen. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie sich das Leben langsam, aber unaufhaltsam aus ihm davongestohlen hatte. Seither wusste sie, sie musste Medizin studieren. Gelernte Wundärztin wie die Mutter zu sein, war ihr zu wenig. Da fehlte sämtliches Wissen über die wahren Zusammenhänge im menschlichen Körper. Nur Christoph konnte ihr helfen, dieses Vorhaben zu verwirklichen.
10
S chon von weitem erkannte Lina den jungen Schreiber aus dem Kontor. Im dichten Gedränge vor den Buden auf der Krämerbrücke überragte der großgewachsene Mann alle anderen. Hinzu kam sein ungewöhnlich leicht federnder Gang. Sie hielt die Luft an, während sie ihm gebannt entgegensah. Im Rhythmus seiner Schritte tanzte der breitkrempige Hut auf und ab. Die vormittägliche Sonne schien ihm mitten ins Gesicht. Fast sah es aus, als reckte er die leicht nach oben gebogene Nasenspitze extra in ihre Richtung. Die letzten Tage hatten bewiesen, wie sehr auch sie ihm gefiel. Vergnügt lächelte sie in sich hinein. Ein kurzer Blick über die Schulter genügte ihr, festzustellen, dass die Luft rein war. Niemand, der ihr bekannt vorkam, schien in der Nähe. Fernab der neugierigen Blicke in der Langgasse konnte sie also endlich den längst überfälligen ersten Schritt tun. Flink schob sie die dicken blonden Zöpfe unter das helle Kopftuch, zupfte an ihrem Leinenkleid, bis die Falten richtig fielen, und hielt geradewegs auf ihn zu. Kaum war sie bei ihm, ließ sie wie zufällig eine der kostbaren Pomeranzen aus dem prall gefüllten Einkaufskorb zu Boden kullern.
»O Gott!«, rief sie und schlug sich die Hand vor den Mund. Behende bückte sich bereits ein Junge nach der Frucht. Doch Humbert Steutner war schneller. Entschieden stellte er seinen riesigen Stiefel auf die Hand, die sich gierig nach dem orangefarbenen Ball streckte. »Nicht!«, warnte er leise, aber bestimmt und beugte sich seinerseits hinab, die Pomeranze
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