Das Bernsteinerbe
Rücksicht auf Vertraulichkeit in allen Ehren, doch so ist es kein Wunder, dass Ihr Euch an der bestellten Menge stört. Eingangs des Briefs berichtet Petersen ausführlich, wie gut sich die Bernsteinessenz inzwischen am Main verkauft. Die Rezeptur hat meine Mutter ihm übrigens bei unserem Weggang aus Frankfurt zusammen mit einigen anderen Rezepten überlassen.«
»Und dank des kaufmännischen Gespürs, das sie schon damals besessen hat, hat sie Petersen gegen eine entsprechende Gewinnbeteiligung das Recht überlassen, die Rezepturen weiterzuverwenden«, ergänzte Egloff. »Da kommt eben doch das Erbe der Singeknecht’schen Ahnen durch. Ihr seht, verehrtes Fräulein Carlotta, ich bin über alles im Bilde, was Eure Frau Mutter und ihre rühmliche Vergangenheit anbetrifft. Schließlich habe ich die Ehre, ihr bereits seit vier Jahren meine Dienste als Schreiber zur Verfügung stellen zu dürfen. Auch dem seligen Paul Joseph Singeknecht, ihrem Onkel, habe ich viele Jahre bis zu seinem Tod treu gedient.«
Er verbeugte sich und mied ihren Blick. Stattdessen nahm er ihr den Brief aus der Hand und wandte sich seinem Pult zu.
Entschlossen schüttelte Carlotta die offenen rotblonden Locken nach hinten, stemmte die Hände in die Seiten und strahlte Egloff aus ihren tiefgründigen blauen Augen an. »Meine Mutter und ich wissen Euren Eifer für unser Kontor sehr zu schätzen. Doch zurück zu Petersens Bestellung: Es sind doppelt gute Nachrichten für uns, dass er einen so unerwartet hohen Bedarf an weißem Bernstein anmeldet. Erstens verdienen wir an der Lieferung und zweitens auch an der Rezeptur. Mein lieber Breysig«, wandte sie sich an den dicken Schreiber am zweiten Pult, »schaut bitte im Güterbuch mit den Lagerbeständen nach, wie viel weißen Bernstein wir vorrätig haben, und Ihr, lieber Egloff, antwortet Petersen, dass er sich wie stets auf die rasche Lieferung verlassen kann.«
Der angesprochene Breysig und sogar Steutner hielten hörbar die Luft an. Egloffs Rücken versteifte sich, seine hellen Augen schauten geradewegs über Carlottas Kopf hinweg an die rückwärtige Wand zu den Regalen. Bis unter die Decke reichten die Bretter mit den Büchern, daneben standen Kisten mit Korrespondenzen in aller Herren Länder, zudem Fächer mit kostbaren Landkarten über sämtliche Teile der Welt.
Carlotta begriff, dass sie zu weit gegangen war. Kurz senkte sie den Kopf, zupfte mit den schmalen Fingern am Taft ihres Kleides und sah dann entschlossen wieder auf. »Worauf wartet Ihr, meine Herren? Ein Handelshaus lebt nicht davon, dass die Kontoristen Däumchen drehen, sondern davon, dass sie die Korrespondenz erledigen, Aufträge ausführen und mit dem Handeln von Waren Geld verdienen.«
Noch einmal schnalzte Egloff laut mit der Zunge. Breysig verharrte starr an seinem Platz. Er machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. So ergriff der schlaksige Steutner die Gelegenheit. Schwungvoll legte er die Schreibfeder beiseite, warf die braune Haarpracht in den Nacken und schlurfte mit riesigen Schritten hinüber zum Regal. Ein Griff genügte, und er hielt das gewünschte Buch mit den Lagerlisten in der Hand.
Im selben Augenblick erhob sich draußen vor dem Haus ungewöhnlicher Lärm. Ein ohrenbetäubendes Donnern war es, als würden nicht weit entfernt Kanonen abgeschossen. Wie auf Kommando drehten Carlotta und die Schreiber die Köpfe zu den vier Fenstern und lauschten erschrocken.
Ein weiterer Donner versetzte die Bleifenster ins Zittern, selbst die Holzdielen auf dem Boden vibrierten unter den Füßen. Danach senkte sich bedrückende Stille über die Stadt.
»Was war das?« Breysigs ohnehin schon rotes Gesicht färbte sich noch eine Spur dunkler. Sogar die abstehenden Ohren nahmen Farbe an. Seine Stimme spiegelte den Schreck wider, der ihm in die Knochen gefahren sein musste. Er war nur noch zu einem bangen Krächzen fähig. »Der Kurfürst wird doch nicht Ernst machen und tatsächlich mit seinen Truppen bei uns im Kneiphof einmarschieren? Die Geschütze auf der Festung sind angeblich längst in Stellung gebracht.«
»Nicht nur in Stellung gebracht«, fiel Egloff ein. »Wirklich abgeschossen wurden sie wohl gerade, wie wir alle hören konnten. Am helllichten Tag Kanonenschüsse auf unsere Stadt, auf Befehl unseres eigenen Kurfürsten! Unfassbar!«
»Dann hat die List mit den Särgen wohl nicht lang vorgehalten. Oder waren das eben keine Kanonen, sondern abermals falsche Särge, die man polternd zum
Weitere Kostenlose Bücher