Das Bernsteinzimmer
auf.«
Und Peter hatte ihn angebrüllt: »Esel seid Ihr! Alle Esel!«
Bei der dritten Warnung hatte er Blumentrost und Paulson mit der Dubina verprügelt, so arg, daß sie von da an schwiegen und nur sorgenvoll das Wachsen seiner verschiedenen Krankheiten beobachteten: die schweren Beine, die Nieren- und Blasenschmerzen, die Harnsteine, die immer häufiger auftretenden Krämpfe, das Schwanken zwischen Bärenstärke und schlaffer Bettruhe.
Und an Katharina, seine Frau, dachte der Zar in dieser einsamen Stunde im neuen Bernsteinzimmer, an die Frau, die einmal Dienstmagd gewesen war, und jetzt, trotz aller wechselnder Mätressen, der Ruhepol seines Lebens geworden war, die Frau, die er liebte und zur Kaiserin gemacht hatte, die ihm treu war – das glaubte er unerschütterlich – und bei der er ein Mensch und nicht nur der gefürchtete Zar sein konnte.
Welch ein Leben lag hinter ihm – und welch ein Leben hielt die Zukunft noch für ihn bereit?
Ab und zu hob er den Kopf, ließ den Blick über die Bernsteinmosaike, die Sockel, Schnitzereien, Figuren, Masken, Bordüren und Gesimse gleiten: eine in der Sonne vom weißlichen Gelb bis zum Braun schimmernde, ihn umschließende, eigene Welt. Und er spürte, wie sich die Unruhe in ihm legte und dieses Zimmer seine heimliche, seelische Beichtkammer werden konnte. Hier, von tausendfältigen Strahlen umgeben, konnte er sich vor sich selbst offenbaren und ehrlich gegen sich selbst sein.
Nach gut einer Stunde riß der Zar die Tür auf und winkte den draußen wartenden Wachter hinein.
»Begreif Er eins –« sagte er sehr ernst – »das hier ist mein Zimmer. Niemand anderes darf hinein! Nur wenn ich es befehle.«
»Auch nicht die Zarin, Majestät?« fragte Wachter.
»Sie darf … aber sie wird nicht. Nur ich und Er … und ich schicke Ihn nach Sibirien zu den Wölfen, wenn ein Fremder dieses Zimmer betritt.«
Der Zar ging zum Fenster, blickte hinaus über die Newa und die Kanäle und Inseln, über die herrliche Stadt, die sein Werk war, herausgestampft aus einem sumpfigen, modrigen Boden, und sagte mit leiser Stimme: »Umgeben bin ich von Arschleckern, Heuchlern, Intriganten, Verrätern, Dieben, Mördern, Postenjägern und Ehrgeizlingen. Fürchterlich ist es …«
»Jagt sie alle weg, Majestät.«
»Und dann? Die dann Kommenden sind nicht besser. Eine Hydra ist's … einen Kopf schlägt man ab und zwei neue wachsen nach! Habe ich Freunde? Ist Menschikow mein Freund? Schafirow? Dolgorukij? Trubezkoj? Romodanowskij? Ich weiß es nicht. Jeder würde mich verraten, wenn es ihnen nützt. Fjodor Fjodorowitsch, Er wird mich nie verraten.«
»Nie, Majestät.« Wachter trat neben den Zaren ans Fenster. »Schlagt mir den Kopf ab beim geringsten Verdacht.«
»Ein guter Mensch ist Er. Er und Seine Familie. Sein Sohn ist, wie ich gern einen Sohn gehabt hätte. Aber das Schicksal hat mir einen Schwächling, Säufer und Verräter beschert. Wachterowskij, sei Er mein heimlicher Freund. Ich weiß, Er begehrt nichts von mir, kein Amt, kein Fürstentum, keinen Palast, keine Armee, keine Weiber … Er ist nur da für das Bernsteinzimmer. Und ich will, daß Er auch da ist für mich. Bei Ihm will ich mich aussprechen und sagen, was keine anderen Ohren hören sollen. Hier in diesem Zimmer. Er soll der Trog sein, in den ich mein Herz ausschütte. Aber wehe, wehe Ihm, wenn ein einziges Wort davon bekannt wird. Auch bei seinem Weibe nicht.«
»Ich schlucke Ihre Sorgen in meine Seele, Majestät. Mit mir sterben sie.«
Der Zar nickte, legte den Arm um Wachter, küßte ihn auf beide Wangen und verließ dann das Bernsteinzimmer. Draußen im Flur hörte man ihn wieder mit den Höflingen brüllen. Zwei Zaren gab es jetzt in Petersburg: Peter den Großen, den mächtigsten Herrscher Europas, und Peter Alexejewitsch Romanow, der immer morscher werdende Riese, der in seinem Bernsteinzimmer allein Gericht über sich selbst hielt. Welch ein Zwiespalt, von dem die Welt nie etwas erfahren würde!
Das Jahr ging vorüber, Adele war wieder schwanger, Julius, unterrichtet von dem deutschen Lehrer Georg Thorfeld aus Hannover, las mit glühenden Wangen medizinische Bücher und begleitete Dr. van Rhijn oft zu den Kranken.
Ein ruhiges, schönes Leben wäre es gewesen, wenn nicht am 21. Januar 1718 der nach Österreich geflüchtete Zarewitsch Alexej nach Rußland zurückgekehrt wäre. Eine List Peters hatte ihn aus der Sicherheit weggelockt … der Zar versprach ihm Gnade und Güte, wenn er ab jetzt ein guter
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