Das Bernsteinzimmer
auch nicht Sylvie Aarenlund …«
»Doch. Das ist mein richtiger Name. Aber was sind Namen?« Sie hielt die Pistole immer noch auf Janas Brust, den Finger am Abzug leicht gekrümmt. Nur eine winzige Krümmung mehr, und es gab Jana Petrowna nicht mehr. »Wir sind eine kleine Gruppe von Antifaschisten. Ich melde ihnen, was ich hier sehe, und sie unterrichten mich, was sie aus Rußland hören. Über unsere Gruppe läuft ein direkter Kontakt zum NKWD in Leningrad.« Sie atmete tief durch, hob die Pistole höher und zielte. »Jetzt weißt du alles, Jana … ich muß schießen. Versteh mich … ich muß!«
»Du erschießt eine Freundin, Sylvie –«
»Ich muß!« rief Sylvie voller Qual. »Ich kann jetzt doch nicht anders. Ich darf keinen Mitwisser haben!«
»Aber eine Mitkämpferin … ist das auch verboten?« Jana kam ins Zimmer und sah, daß der Lauf der Pistole jeder ihrer Bewegungen folgte. »Sieh mich nicht so ungläubig an, Sylvie. Du hattest dein Geheimnis, ich habe mein Geheimnis … beide bedeuten den Tod! Ich bin keine Rote-Kreuz-Schwester.«
»Das sagst du jetzt nur!« Sylvie hielt die Pistole in Augenhöhe, während Jana mit beiden Händen durch ihr Haar fuhr. Die Schwesternhaube hatte sie vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert. »Damit kannst du dich nicht mehr retten.«
»Ich bin auch nicht in Lyck geboren, sondern in Leningrad. Ich bin eine Russin und heiße richtig Jana Petrowna Rogowskaja.«
Ganz langsam ließ Sylvie ihre Waffe sinken. »Wie … wie willst du das beweisen?« sagte sie gepreßt.
»Kannst du russisch?«
»Ja.«
»Ich bin in der Uniform der Rote-Kreuz-Schwester bei Puschkin von den deutschen Truppen überrollt worden und bin seitdem Deutsche«, sagte sie auf russisch. »Niemand hat mich gefragt … die Schwesterntracht allein genügte. Ich gehöre zur Bewachung des Bernsteinzimmers … der Verwalter, Michael Wachter, ist mein zukünftiger Schwiegervater. Sein Sohn Nikolaus kämpft in Leningrad gegen die Deutschen … Nikolaj Michajlowitsch Wachterowskij. Bei Beginn der Blockade war er in der Eremitage beschäftigt. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, ob er die neunhundert Tage Hunger und Sterben überlebt hat, neunhundert Tage Hölle, bis unsere Rote Armee die deutschen Truppen zurückdrängte und Leningrad befreite. Ich habe keine Nachricht von ihm, wie auch? Woher? Sylvie, ich lebe hier ein anderes Leben, genau wie du … Glaubst du mir?«
»Ja.« Sylvie ließ die Pistole sinken. »Ich glaube dir. Mein Gott, ich hätte dich erschossen, erschießen müssen … meine beste, einzige Freundin.«
»Ich verstehe es, Sylvie.«
»In welch einer gnadenlosen Zeit leben wir!«
Sie ließ das Funkgerät auf den Sessel gleiten, sprang auf, umarmte Jana, zog sie an sich und küßte sie nach alter Russenart dreimal auf die Wangen. Und plötzlich weinte sie, die Nervenanspannung löste sich und wurde zum Schluchzen. Die Erkenntnis, daß sie Jana wirklich erschossen hätte, ließ sie fast zusammenbrechen.
Von diesem Tag an gab es nichts, was Sylvie und Jana hätte trennen können. Manchmal saß Jana neben ihr, wenn sie mit ihrer Gruppe den Funkverkehr aufgenommen hatte und die Truppenteile durchgab, die Königsberg verließen oder in Königsberg einmarschierten. In Leningrad war man so über alle Truppenbewegungen der deutschen Armeen unterrichtet, über ihre Ausrüstung, über die Zahl von Artillerie und Panzer und über die Züge, die Verpflegung und Munition in die Stadt brachten. Jana half mit, indem sie wiedergab, was ihr die verwundeten Soldaten im Krankenhaus von der Front erzählten, von Munitions- und Spritmangel, von der Stimmung in der Truppe, von den herumgeisternden Gerüchten, die der Landser ›Latrinenparolen‹ nannte und die doch immer ein Quentchen Wahrheit enthielten. Aus den von allen Seiten hereinkommenden Mosaiksteinchen an Informationen setzte man dann in Moskau das ganze Bild der deutschen Lage zusammen. Ein fast vollkommenes Bild … das langsame, aber unaufhaltsame Sterben des Großdeutschen Reiches. Die Niederlage Hitlers. Das Ende der Naziherrschaft. In Moskau wußte man mehr als der Großteil der deutschen Bevölkerung. Man kannte die Wahrheit … wer in Deutschland wußte von ihr?
Die Wahrheit über Sylvie erfuhr ein paar Tage später auch Wachter. Er nahm sie sehr vorsichtig auf, prüfte das hübsche blonde Mädchen, sprach mit ihr russisch, nahm einmal teil an dem Funkverkehr mit Schweden und las die Notizen, bevor Sylvie sie verbrannte.
»Sag ihnen
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