Das Bernsteinzimmer
Gemäldegalerie und dann im Bernsteinzimmer, das Dr. Findling damals zur Besichtigung für alle freigegeben hatte. Jana fiel auf, daß das blonde Mädchen nicht wie andere Besucher einen Rundgang an den Bernsteinwänden entlang machte, sondern oft stehenblieb, einzelne Mosaike betrachtete und sich dann sogar auf einen der Stühle setzte, die zum Ausruhen im Zimmer standen. Wachter, der eine Gruppe Schüler mit ihrem Lehrer herumführte und die Geschichte des Bernsteinzimmers erzählte, beachtete das Mädchen nicht. Er wunderte sich nur bei einem schnellen Seitenblick, daß Jana, die ihn an diesem Nachmittag besuchte, mit der jungen Besucherin sprach.
»Das Zimmer interessiert Sie?« hatte Jana das Mädchen angesprochen. Und in akzentfreiem Deutsch hatte Sylvie geantwortet:
»Es ergreift mich. Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin nicht fasziniert von diesem einmaligen Kunstwerk … das wäre zu wenig. Es … es dringt mir ins Herz …«
»Mir geht es genauso. Manchmal bin ich wie betäubt von soviel Schönheit.«
»Sie sind Krankenschwester, wie ich an Ihrer Tracht sehe.«
»Ja. Hier im Krankenhaus.«
»Stammen Sie aus dem Baltikum? Sie sprechen ein hartes Deutsch.«
»Ich bin in Masuren geboren.« Die alte Lüge, die ein gutes Schutzschild war. »In einem kleinen Dorf bei Lyck.«
So begann eine Freundschaft. Sylvie und Jana fanden sich sofort sympathisch, verabredeten sich zu einem Kinobesuch, und – als sei sie wirklich eine brave Tochter – nahm Jana die neue Freundin eines Tages auch mit ins Krankenhaus und stellte sie Frieda Wilhelmi vor.
»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Frieda am Abend, als sie wie immer zusammen am Tisch saßen und aßen, was ihnen vom Arztkasino gebracht worden war. »Es freut mich, daß du endlich eine Freundin hast und nicht immer allein ausgehst oder hier herumsitzt. Das heißt nicht –« Frieda hob den Zeigefinger, – »daß ihr nun zu zweit herumflitzt und den Männern die Köpfe verdreht. Ich passe weiter auf dich auf, Tochter.«
Es wurden schöne Wochen. Im Sommer fuhren sie hinaus zur Nehrung und badeten in der Ostsee, mieteten sich ein Segelboot und segelten im Haff, und es zeigte sich, daß Sylvie eine erfahrene Seglerin war und jede Windsituation meisterte. Im Winter liefen sie Schlittschuh im Eisstadion, auf dem gefrorenen Haff oder am Ufer der Pregel, tranken Glühweinersatz, teilten die mitgenommenen Butterbrote miteinander, wobei Sylvies Schnitten immer besser belegt waren, da sie aus Schweden Freßpakete erhielt … wie Schwestern wuchsen sie zusammen, und es gab nichts, was zwischen ihnen ein Geheimnis war.
Das änderte sich im Sommer 1944.
Jana, die von Sylvie einen Schlüssel zu deren kleiner Wohnung in einem Vorort von Königsberg erhalten hatte, kam an diesem Abend unverhofft zu Besuch. Sie hatte von Frieda unerwartet frei bekommen, war mit der Straßenbahn hinausgefahren, schloß leise die Wohnungstür auf, um Sylvie zu überraschen, und stand plötzlich im Zimmer.
Von einer Sekunde zur anderen wie versteinert, blieb Jana in der Tür stehen. Sylvie saß in einem Sessel, tief über einen schmalen Kasten auf ihrem Schoß gebeugt. Ein Kabel verband den schwarzen Kasten, an dem einige Knöpfe und Schalter waren, mit einem Kopfhörer, den sie übergestülpt hatte. Angestrengt schien sie auf etwas zu lauschen, schaltete dann um und tippte mit dem Mittelfinger auf eine Taste. Es klapperte leise … kurz, lang, kurz, kurz … und irgendwo saß jemand anderer und nahm die Zeichen auf.
»Guten Abend, Sylvie …« sagte Jana laut.
Sylvie fuhr entsetzt hoch, schaltete das Gerät aus, riß den Kopfhörer herunter, griff zur Seite und ließ die Hand hochschnellen. Ihre Finger umklammerten eine Pistole, die sie jetzt auf Janas Brust richtete.
»Jana, mein Gott, Jana, das hättest du nicht tun dürfen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Jana … jetzt … jetzt muß ich dich erschießen … Rühr dich nicht von der Stelle! Jana … warum hast du nicht angeklopft?«
»Ich wollte dich überraschen.« Jana starrte auf die Pistole. Der Lauf zeigte genau auf ihr Herz.
»Das ist dir gelungen. Und … ich muß dich töten. Ich muß …«
»Du hast ein Funkgerät, Sylvie …«
»Ja.«
»Du gibst Nachrichten durch …«
»Ja.«
»Du bist eine Spionin …«
»Ihr nennt es so … Ich kämpfe gegen dein Deutschland, gegen den Faschismus, gegen den Krieg, gegen euren verdammten Führer … ich kämpfe für Freiheit und Frieden …«
»Und du … du heißt
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