Das Bernsteinzimmer
Ihnen: Wenn wir das Bernsteinzimmer wieder aufstellen, entferne ich den nachgemachten Engelskopf. Der ›Zarenfleck‹, nennen wir ihn so, soll bleiben.«
»Danke.« Wachter wischte sich mit beiden Händen über die Augen. »Danke, Dr. Findling. Sie sind einer der wenigen, die das verstehen.«
Wie nötig der Abbau des Bernsteinzimmers war, erkannte man in der Nacht vom 29. zum 30. August 1944.
Bombergeschwader der anglo-amerikanischen Luftwaffe erschienen über Königsberg. Ein verheerendes Bombardement begann, die Stadt ging in Flammen auf, Flak und Nachtjäger schossen vergeblich in diesen dichten Schwarm hinein. Aus dem Nachthimmel regnete es Tod und Zerstörung. Sprengbomben, Luftminen, Brandbomben und Phosphorbomben entfachten eine Gluthölle.
Am Morgen des 30. August 1944 gab es das alte Königsberg nicht mehr.
Das Schloß der Ordensritter, der Stolz der Stadt, war in einer einzigen Nacht fast völlig zerstört worden. Rauchende Ruinen blieben zurück, zerplatzte Mauern, eingestürzte Türme, zerfetzte Gebäudeflügel … das Schloß von Königsberg war ein Haufen geschwärzter, verkohlter, zerfetzter Trümmer.
Der Wehrmachtsbericht lautete:
»30.8.1944.
In der Nacht führte die britische Luftwaffe erneut unter Verletzung schwedischen Hoheitsgebietes Terrorangriffe gegen Stettin und Königsberg.
Luftverteidigungskräfte schossen bei diesen Angriffen 82 viermotorige Terrorbomber ab …«
Das war alles. Ein paar allgemeine Sätze über die Vernichtung einer Stadt, das Elend von Tausenden, den Tod von Frauen, Kindern und Greisen, über aufgerissene Leiber und Menschen, die in den Kellern erstickten, die verbrannten oder an Lungenriß jämmerlich krepierten.
Gauleiter Koch, aus seinem sicheren Bunker hervorgekrochen, ließ sich sofort zum Schloß fahren, zum Südflügel, der völlig zerbombt war. Er suchte Findling und Wachter und fand sie im Hof des Schlosses, umgeben von Soldaten und polnischen Zwangsarbeitern.
»Das Bernsteinzimmer!« schrie Koch, als er aus dem Wagen sprang. »Was ist mit dem Bernsteinzimmer, Findling, sagen Sie mir die Wahrheit!«
Die Stadt brannte noch, Häuser stürzten in sich zusammen, Bergungstrupps wühlten die Trümmer nach Überlebenden durch. In den Krankenhäusern, in Schulen und Turnhallen lagen die Wimmernden und Sterbenden, arbeiteten die Ärzte und Sanitäter, die Schwestern und Freiwilligen und kämpften um jedes Leben.
»Es ist unversehrt, Gauleiter.« Dr. Findling, mit rußgeschwärztem Gesicht, nickte Koch zu. »Die Keller haben gehalten.«
»Das ist Ihr Verdienst, Findling! Ich werde das nie vergessen.« Koch zögerte, dann streckte er Findling beide Hände hin. »Ich danke Ihnen.«
»Das Bernsteinzimmer ist ein Teil meiner Seele, Gauleiter.« Findling wandte sich zu Wachter um. Polnische Arbeiter schleppten gerade die erste Kiste aus dem Keller nach oben in den Schloßhof, begleitet von Wachters Rufen: »Aufpassen! Höher halten! Mehr nach links, ihr Kerle! Links …«
»Was soll denn das?« fragte Koch laut.
»Ich lasse die Kisten in den Nordflügel bringen, Gauleiter. Dort sind sie sicherer. Die Keller des Südflügels sind zwar tief genug, aber die Gewölbe im Nordflügel sind stärker. Die Keller neben dem ›Blutgericht‹ sind die sichersten im ganzen Schloß. Hier kommt die stärkste Bombe oder Luftmine nicht durch. Hier kann es keinen Brand geben.«
»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Findling.« Koch blickte auf die erste Kiste, die jetzt auf dem trümmerübersäten Schloßhof stand. »Ich vertraue Ihnen einen der größten Kunstschätze der Welt an. Nach dem Endsieg werde ich Sie dem Führer vorstellen … er wird Ihnen sehr dankbar sein.«
Koch grüßte, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder zurück in die brennende Stadt. In das Führerhauptquartier schickte er die Meldung: »Der Einfachheit halber bitte ich Sie, dem Führer und Reichsleiter Bormann mitzuteilen, daß das Bernsteinzimmer unversehrt geblieben ist.«
Es war selbstverständlich, daß Wachter nach dem Transport des Bernsteinzimmers in die Gewölbe des Nordflügels einen Keller weiter als neue Wohnung bezog. Seine bisherige Wohnung war bis auf die Grundmauern zerstört worden, nichts fand er von ihr wieder als eine kleine, aus Messing gehämmerte, dreiteilige Reise-Ikone, die Zar Peter I. 1720 seinem heimlichen Freund Friedrich Theodor Wachter geschenkt hatte. Seitdem war sie von Generation zu Generation vererbt worden, hatte in der ›schönen Ecke‹ auf einem Holzbord
Weitere Kostenlose Bücher