Das Bernsteinzimmer
Beute!«
In der Gauleitung rief Gauleiter Koch erneut seine Getreuen, so nannte er sie, zusammen. Mit zitternden Händen hielt er ein Papier vor sich hin, und als er sprach, war seine Stimme rauh vor Erregung.
»General Gehlen von ›Fremde Heere Ost‹ der Abwehr hat uns soeben einen Aufruf des Judenlümmels Ilja Ehrenburg durchgegeben. Alle deutschen Wehrmachtsverbände werden darüber unterrichtet. Der Führer hat befohlen, daß jeder diese widerliche Schmiererei kennt, um endlich klar zu sehen, was uns erwartet, wenn wir uns nicht mit allem Heldenmut dieser roten Mörderflut entgegenstemmen.«
Koch verlas den Aufruf Ehrenburgs wie ein Schauspieler einen dramatischen Text. Den Tagesbefehl des Marschalls Tschernjakowskij unterschlug er. Als er den Vortrag beendet hatte, warf er das Blatt auf den Boden und stampfte mit den Stiefeln darauf. Die versteinerten Gesichter vor sich nahm er nicht wahr, auch nicht, daß Wachter die Hände gefaltet hatte. Kreisleiter Wagner rückte nervös an seinem Koppel herum. Bruno Wellenschlag schluckte mehrmals, als verstopfe etwas seinen Hals.
»Sie haben es gehört!« schrie Koch mit hochrotem Gesicht. »Das ist ein Aufruf zum Mord! Das ist der Befehl, unsere Frauen zu vergewaltigen! Die bolschewistischen Bestien werden losgelassen! Ein dreckiges Judenschwein will uns den Arsch aufreißen! Männer … es geht jetzt nicht mehr darum, ein Stück Land zu verteidigen. Wir müssen unsere Frauen und Kinder retten! Wir kämpfen bis zum letzten Mann. Sieg heil!«
Bevor sie alle den Saal mit der riesigen Hakenkreuzfahne verließen, winkte Koch mit der rechten Hand Dr. Findling und Wachter, zu bleiben. Als sie allein waren, fiel die Maske des Kämpfers für Führer und Volk von Koch ab. Mit verzerrtem Mund, seinen kleinen Schnurrbart streichelnd, kam er auf sie zu.
»Man erwartet jeden Tag den Beginn der großen sowjetischen Offensive«, sagte er. »Heute oder morgen oder übermorgen … länger wird's nicht dauern. Wir alle vertrauen auf unsere tapferen Soldaten, eine Überlegenheit des Feindes hat uns noch nie geschreckt. Nicht 1870/71, nicht im Ersten Weltkrieg und heute schon gar nicht. Trotzdem … Findling, kann mein Bernsteinzimmer sofort verlagert werden?«
Er sagte tatsächlich ›mein Bernsteinzimmer‹. Dr. Findling starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.
»Natürlich wäre das möglich, es kommt nur darauf an, wohin. Man müßte es für einen längeren Transport allerdings neu und besser verpacken.«
»Ich habe darüber nachgedacht.« Koch nahm eine kleine Wanderung vor Dr. Findling auf. Drei Schritte hin, drei Schritte zurück. »Ich habe auch schon mit Gauleiter Mutschmann in Dresden gesprochen. Er hält die Sächsische Schweiz nicht für sicher genug. Eine wirkliche Sicherheit bieten nur Thüringen oder die Salzbergwerke bei Göttingen, das Bergwerk Grasleben oder Merkers in Thüringen. Auch die Salzstollen in der Ostmark wären sicher … rund um den Dachstein gibt es Riesenhöhlen, deren Eingang man nach der Einlagerung der Kunstschätze sprengen könnte. Niemand würde erfahren, wo das Bernsteinzimmer hingekommen ist … nur ein paar Eingeweihte. Sie, Dr. Findling, Sie, Wachter, ich und natürlich der Führer und Reichsleiter Bormann. Und noch ein paar andere, die mit dem Transport zu tun haben. Was halten Sie davon?«
»Sie glauben, daß der Russe Königsberg erobern wird, Gauleiter?« fragte Dr. Findling.
»Stellen Sie nicht so dämliche Fragen, Mann!« Koch starrte Findling wütend an. »Was ich denke, ist unwichtig. Wichtig ist allein die Rettung der unersetzlichen Kulturgüter. Auch die Rettung vor einer möglichen Gefahr … möglichen Gefahr, sage ich, hören Sie genau zu! Ich bin gewillt, das Bernsteinzimmer, die Ikonensammlung, die russischen Gemälde, die Bibliothek des Zaren Peter und das ganze Silber, alles, was aus Puschkin zu uns gebracht wurde, aus Königsberg wegzuschaffen! Ins sichere Reich! Wie lange brauchen Sie bis zur Transportbereitschaft?«
»Ein paar Tage nur, Gauleiter.« Dr. Findling räusperte sich. »Soll das ohne eine Benachrichtigung des Führers geschehen?«
»Natürlich nicht. Natürlich werde ich den Führer fragen. Auch den genauen Einstellort werden wir dann festlegen. Wichtig ist, daß Sie –«, er sah dabei Dr. Findling und Wachter scharf an, »– sofort mit der Arbeit beginnen.«
Doch das, was zuerst kam, war die Rote Armee.
Am 12. Januar, vor Sonnenaufgang, rollte die größte Offensive an, die jemals in einem
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