Das Bernsteinzimmer
Wissen Sie, was das bedeutet? Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind! Von einem Schnellgericht werden Sie zum Tode verurteilt und aufgehängt oder erschossen!«
»Ich nicht.«
»Warum sollte man mit Ihnen eine Ausnahme machen? Wie wollen Sie überhaupt aus Königsberg raus? Sie haben keinen Marschbefehl. Dieser Hauptmann Leyser wird sich hüten, Sie heimlich mitzunehmen. Jetzt werden sogar Ritterkreuzträger aufgehängt –«
»Ich werde es schaffen, Doktor.« Wachter atmete tief ein. Die Sorge, was aus Jana wurde, war noch nicht gelöst. Für Oberschwester Frieda Wilhelmi war sie unentbehrlich geworden. Die Masse der Verwundeten, die mit Lazarettzügen oder Sankas nach Königsberg gebracht wurden, hatte die Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser, der Notlazarette in Schulen und Turnhallen und den weit verzweigten alten Festungsanlagen von Königsberg längst überschritten. Die alten Forts und Bollwerke waren überfüllt, es gab zu wenig Ärzte und Schwestern, Sanitäter oder Hilfskräfte. Lehrerinnen und Frauen in Sozialberufen wurden dienstverpflichtet. Sie wuschen die Verwundeten, gaben ihnen zu trinken, fütterten sie und drückten den Toten die Augen zu, saßen bei den Sterbenden und waren oft Mutter-, Frau- oder Brautersatz in den letzten Stunden.
»Wann kommen wir heraus?« fragte Jana an einem dieser Tage.
»Heraus?« Frieda hatte sie erstaunt angesehen. »Wann es befohlen wird.«
»Und wenn das zu spät ist?«
»Ich bleibe, solange noch ein Verwundeter hier im Haus liegt!«
»Die Russen werden Königsberg erobern …«
»Na und? Können meine Verwundeten weglaufen? Ich gehöre zu ihnen, sie brauchen mich.«
»Die Russen werden dich vergewaltigen … denk an den Aufruf Ehrenburgs.«
»Mich vergewaltigen?« Frieda, der Turm aus Knochen und Fleisch, lachte kurz auf. »Da müssen schon vier sibirische Riesen kommen …«
»Töten werden sie dich! Ganz einfach töten.«
»Tochter! Wer hätte das gedacht, du bist ja auch von der Propaganda verseucht! Ob Deutsche oder Russen, man kann mich überall brauchen. Man wird froh sein, daß ich noch da bin. Wir Ärzte und Schwestern kennen weder Freund noch Feind, nur Verletzte, Kranke, Hilfesuchende. Merk dir das, Tochter!«
Janas letzter Besuch bei Sylvie wurde zu einer Qual. Unentwegt funkte diese ihre Beobachtungen nach Schweden, die von dort zur Zentralstelle in Leningrad weitergegeben wurden. Die Zehntausende von Flüchtlingen, die am Haff und am Bahnhof auf einen Platz in einem Eisenbahnwaggon oder auf einem Schiff warteten, die Schanzarbeiten an neuen Verteidigungslinien, das Aufstellen neuer Panzersperren aus Beton, das Hereinströmen der letzten Reserven, die versuchen sollten, einen Riegel vor Königsberg zu bilden … Berichte waren es, die der sowjetischen Führung zeigten, daß Verzweiflung ungeahnte Kräfte mobilisieren kann und daß es noch viel Blut kosten würde, bis man in Königsberg einmarschieren konnte. Aber das kannte man von Leningrad her. Neunhundert Tage Blockade durch die deutschen Truppen hatte man überstanden, eine Hungerhölle ohne Beispiel, bis im Januar 1944 die Stadt von der sowjetischen 42. Armee befreit wurde.
Für Königsberg aber gab es keine Befreiung mehr. Ob noch Tage oder Wochen … der Untergang war sicher.
»Ich will Abschied nehmen«, sagte Jana Petrowna. Sie saß Sylvie gegenüber, die ihr Funkgerät gerade abgestellt hatte.
»Abschied? Wieso?« Sylvie sah Jana ungläubig an und schüttelte dabei den Kopf. »Was soll das heißen?«
»Ich werde Königsberg verlassen.«
»Bist du verrückt? Wo willst du denn hin?«
»Ich weiß es nicht. Noch nicht …«
»Jana, das ist Wahnsinn! Du bleibst hier bei mir in Königsberg, wirfst die Nazitracht weg, wirst dich beim sowjetischen Kommandanten melden, eine russische Feldscher-Uniform bekommen und wieder das sein, was du bist: eine Russin. Und nach dem Sieg wirst du deinen Nikolaj wiedersehen …«
»Ich kann Väterchen nicht allein lassen, Sylvie.«
»Michail Igorowitsch wird man mit offenen Armen aufnehmen. Ein Held wird er sein.«
»Ohne Bernsteinzimmer? Was ist Väterchens Leben wert ohne Bernsteinzimmer? Er bleibt bei ihm, wird mitziehen, wohin man es auch bringt, nicht trennen kann man ihn von ihm. Und ich muß bei ihm bleiben, Sylvie. Er paßt auf das Bernsteinzimmer auf und ich auf Väterchen. Das ist meine Pflicht.«
»Pflicht! Pflicht! Überleben sollst du! Willst du als deutsche Krankenschwester irgendwo verrecken? Jana, in ein paar Tagen kannst du
Weitere Kostenlose Bücher