Das Bernsteinzimmer
wieder eine Russin sein!«
»Ohne Bernsteinzimmer und Väterchen.«
»Du bist verrückt, verrückt, verrückt!« schrie Sylvie und sprang auf. »Ist denn das Bernsteinzimmer das Wichtigste auf der Welt?!«
»Für uns – ja.«
»Man sollte dich mit kaltem Wasser übergießen, damit du endlich vernünftig wirst. Was kannst du denn tun, wenn die Naziräuber das Bernsteinzimmer irgendwo vergraben?«
»Ich bin dabei … ich weiß, wo es vergraben ist … ich kann es nach dem Krieg wieder ausgraben lassen und zurückbringen nach Puschkin in den Katharinen-Palast. Das allein ist meine Aufgabe.«
»Und dafür hältst du den Kopf hin!«
»Ja. An den Fronten sterben unsere Männer und kämpfen um ihr Vaterland. Ich kämpfe auch, nur auf einem anderen Kampfplatz.«
»Der geheime Soldat Jana Petrowna! Wie heldenhaft das klingt! Und nun … warum bist du gekommen?«
»Um Abschied zu nehmen, Sylvie.« Jana faltete die Hände im Schoß. Das Herz wurde ihr schwer. »Ich hoffe, daß wir uns wiedersehen.«
»Wo?«
»In Leningrad, oder bei dir, in Schweden, in Uppsala oder sonstwo. Was wirst du nach dem Krieg tun?«
»Ich weiß es noch nicht. Weiterstudieren oder heiraten und Kinder kriegen, ein Sommerhäuschen auf den Schären … wie kann man sagen, was unsere Zukunft ist? Nicht schwer wird es sein, dich zu finden: Wo das Bernsteinzimmer ist, bist auch du.«
»So Gott will, Sylvie.«
»Du glaubst an Gott?« Sylvie starrte Jana verblüfft an. »Du – eine Kommunistin?! Eine ehemalige Komsomolzin?«
»Ja. Ich glaube an Gott. Ich bete sogar.«
»Aus dir soll man klug werden.« Sylvie umarmte Jana, als diese aufstand, sie küßten sich wie zwei Schwestern, und dann riß sich Jana los und rannte aus der Wohnung, als hätte sie jemand davongejagt. Gab es ein Wiedersehen?
Aus der Ferne, vom Wind herbeigetragen, rollte Kanonendonner über die Stadt. Ein Gewitter des Todes und der Zerstörung.
Die zwanzig Lkws mit dem roten Kreuz waren beladen. Die Kisten, in denen das Bernsteinzimmer, von allen Seiten gut gepolstert, stand, trugen einen roten Punkt. In den anderen Verschalungen steckten die berühmte Silbersammlung, die Gemälde alter russischer und europäischer Meister, darunter ein Rubens, ein Canaletto und ein Spitzweg. In einer besonderen Kiste hatte man einen Gobelin aus Flandern aus dem Jahre 1580 verstaut, ein Riesengewebe von 4,52 x 3,50 Metern. Diese Kiste trug, mit Pinsel und schwarzer Farbe aufgemalt, den Vermerk: M-D-Voß und – in einem gezeichneten Dreieck – den Buchstaben B. Ein Gobelin, der unter ›Führervorbehalt‹ fiel. M-D-Voß war die Abkürzung für den Beauftragten des Sonderauftrages ›Linz‹, den in Dresden lebenden Museumsdirektor Voß, und das B im Dreieck ließ die Deutungen Berlin, Berchtesgaden oder Bormann zu.
Das hatte jetzt alles wenig Bedeutung. Was mit den Rote-Kreuz-Wagen abtransportiert wurde, galt als ›Sammlung Gauleiter Koch‹.
Noch einmal versuchte Dr. Findling, mit Koch zu sprechen. Es war fünf Uhr morgens, das Artilleriefeuer an der Front von Wehlau war deutlich zu hören. Aber Koch war nicht zu erreichen. Er hatte zur Überraschung aller seinen Gauleiter-Sonderzug den in geballten Massen am Hafen und Bahnhof wartenden Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Militär und Parteifunktionäre regelten, so gut es ging, das Chaos, als Tausende den Zug stürmten. Der Befehl ›Frauen und Kinder zuerst‹ war völlig sinnlos geworden, um einen Platz im Zug wurde getreten und geboxt, niedergerannt und zusammengeschlagen. Im Hafen war es nicht anders. Der Sturm auf die wenigen noch zur Verfügung stehenden Schiffe war ein Kampf auf Leben oder Tod. Die Zange um Ostpreußen schloß sich von Stunde zu Stunde mehr, die sowjetischen Armeen von Tschernjakowskij und Rokossowskij drangen unaufhaltsam vor.
Am Apparat erreichte Dr. Findling nur Bruno Wellenschlag, dessen Stimme vor Angst gebrochen schien.
»Ja, Doktor, ja! Hauen Sie ab!« rief Wellenschlag ins Telefon. »Die Russen stoßen auf Elbing zu und werden uns abschneiden. Dann ist für Sie der Ofen aus! Sie müssen den Landweg noch schaffen! Umladestation ist Berlin, von dort bringt ein Zug die Ladung nach Reinhardsbrunn. Der Gauleiter hat mit dem Gauleiter von Thüringen Sauckel alles durchgesprochen, von Schloß Reinhardsbrunn geht es weiter in ein Salzbergwerk. Reinhardsbrunn wird wahrscheinlich das neue Führerhauptquartier werden und den Namen ›Wolfsturm‹ erhalten. Sicherer geht es nicht. Mann, hauen Sie endlich
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