Das Bernsteinzimmer
heute nicht sagen.
Gott sei bei Dir, Mutter Frieda. Gott gebe uns die Gnade, uns wiederzusehen. Paß auf Dich auf, zu sagen, laß Dich nicht unterkriegen, wäre falsch: Du läßt Dich nicht unterkriegen! Ich umarme Dich, ich küsse Dich. Sei nicht enttäuscht von mir. Wo ich auch sein werde, in meinem Herzen bist Du dabei. Deine Jana Petrowna.
PS.: Ich habe aus Deinem Schreibtisch einen Blanko-Marschbefehl, unterzeichnet von Dr. Pankratz, gestohlen und ausgefüllt. Verzeih mir, aber er ist der Paß für ein Überleben.
Frieda Wilhelmi las den Brief langsam durch, Wort für Wort, ganz langsam, als wolle sie ihn auswendig lernen. Dann zerriß sie ihn, nahm ihn mit in ihr Zimmer und steckte ihn in den Ofen. Sie sah zu, wie er verbrannte, zerstörte mit dem Schüreisen auch noch die Asche und warf dann die Ofenklappe zu.
Jana Petrowna, Tochter, Gott sei auch mit dir.
Die Straße und die Eisenbahnlinie nach Elbing waren noch frei an diesem Morgen, dem 22. Januar 1945. Die sowjetische 48. Armee, 65. Armee und 2. Panzer-Armee stießen weiträumig über Osterode und Deutsch-Eylau auf die Küste zu, schwere Artillerie hatte Straße und Bahn bereits unter Beschuß, Tiefflieger stürzten sich auf die endlosen Flüchtlingstrecks und Militärkolonnen, aus Königsberg lief der letzte D-Zug nach Westen aus. Im Morgengrauen des 22. Januar … dann war der Weg in die Freiheit versperrt.
Die Nachricht, daß der Russe durchbrechen würde, löste eine unvorstellbare Panik aus. Die wichtigste Versorgungsstelle und das Zentrallager des Nachschubs, das Heereszeugamt in Ponart, wurde von seinem eigenen Leiter in Brand gesetzt. Die gesamte Besatzung des am Stadtrand von Königsberg gelegenen Lufthansa-Flugplatzes Devau flüchtete mit dem Flugzeug ins Reich; als Militär den Platz besetzte, fand es die Panzerschränke offen vor, randvoll mit geheimen Unterlagen.
Gauleiter Koch tobte. Todesurteile wurden gefällt und sofort ausgeführt. Da der Landweg nun versperrt war, setzte bei den verzweifelten Flüchtlingsmassen, die sich noch in der Stadt drängten, ein Sturm auf die letzten Schiffe im Hafen ein. Überfüllt, tief im Wasser liegend, stampften sie hinaus in die Ostsee, begleitet von kleinen Marinefahrzeugen, die nie in der Lage gewesen wären, sowjetische U-Boot-Angriffe abzuwehren. Nur weg, weg aus dem sich bildenden Kessel Königsberg. Weg von den Russen, die nach den Aufrufen ihrer Führung keine Gnade mehr kannten. Wenige der Flüchtenden nur dachten daran, daß sie nun das gleiche Schicksal erlitten, das vor ihnen die russische Bevölkerung beim Vormarsch der deutschen Divisionen auf sich nehmen mußte. Hunderttausende Tote durch Hunger, Verfolgung, Deportation, Erschießungen, allein in Leningrad während der neunhunderttägigen Blockade. Die Verhungerten lagen auf den Straßen herum und wurden mit Schlitten, auf Brettern und auseinandergeklappten Pappkartons, mit Handwagen oder einfach über die Schulter geworfen zu den Friedhöfen gebracht. Hunderttausende unschuldiger Menschen. Wer kann das vergessen?
Die Rote-Kreuz-Kolonne, die zwanzig Lkws mit dem Bernsteinzimmer und den ›Gauleiter-Schätzen‹, quälte sich durch den Flüchtlingstreck langsam nach Elbing. Hauptmann Leyser studierte während der Fahrt die Karte und schüttelte mehrmals den Kopf.
»Wenn das so weitergeht im Schrittempo, erreichen wir nie Berlin. Der Treck wird von Elbing aus die Straße nach Danzig und weiter über Stolp–Köslin–Stettin völlig verstopfen! Wir müssen weg von der großen Linie und versuchen, über den schmaleren Weg Elbing–Marienburg–Graudenz–Bromberg–Schneidemühl–Landsberg Berlin zu erreichen. Wenn der Russe nicht schneller ist –« Er sah Jana an, die neben ihm im Kübelwagen saß. »Was halten Sie davon?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne den Weg nicht. Ich weiß nur, daß der Russe sehr schnell ist.«
Sie fuhren drei Tage und drei Nächte, ununterbrochen, selbst die Mahlzeiten verzehrten sie im Fahren. Als sie endlich durch Graudenz fuhren, das in panischer Räumung begriffen war, atmeten sie alle auf. Von hier ab lag der Weg nach Berlin noch frei vor ihnen, die deutsche 2. Armee hatte einen Riegel gebildet, gegen den fünf sowjetische Armeen anrannten. Aber auch diese Straße lag unter dem Artilleriefeuer der russischen 65. Armee , und in Richtung Thorn– Bromberg stieß die sowjetische 47. Armee des Marschalls Schukow vor, während gleichzeitig aus dem Raum südlich Warschaus fünf Armeen in den Raum Lodz,
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