Das Bernsteinzimmer
deutscher Art geschmückten Weihnachtsbaum sitzen und deutsche Weihnachtslieder singen würde und auch das sowjetische Fest von Väterchen Frost versäumte. Traurig dachte er an Jana Petrowna, die er in diesem halben Jahr nur zweimal telefonisch hatte sprechen können und deren Briefe, die sie nach Frankfurt schickte, so fröhlich klangen und doch voller versteckter Sehnsucht waren. Immer wieder fragte er sich deshalb in Sorge: Wozu das alles? Wir finden das Bernsteinzimmer doch nie!
Der alte Wachter war es dann, der ihm neuen Mut gab. »Es ist noch da!« sagte er voll fester Überzeugung. »Es ist nicht vernichtet worden. Irgendwo ist es versteckt, und da es das Zimmer noch gibt, hört nie die Hoffnung auf, die richtige Spur zu ihm zu finden. Man muß nur immer von ihm sprechen, nicht lockerlassen, die Menschen anregen, die Augen offenzuhalten und genau zu beobachten … ja, meine Lieben, die Menschen, nicht die Behörden. Von den staatlichen Stellen haben wir nichts zu erwarten, da sind wir nur die unbequemen, bohrenden, frechen, kommunistischen Russen, denen man jede Information verwehrt, jede Einsicht in Archive, jede Aufzeichnung der Vergangenheit. Allein stehen wir, ganz allein … hoffen können wir nur auf einen Zufall, auf einen Wink aus der Bevölkerung, der uns den richtigen Weg weist. Und darum dürfen wir nie Ruhe geben, müssen immer in die Lande rufen: Was wißt ihr über das Bernsteinzimmer? Was habt ihr 1945 oder heute gesehen? Was habt ihr flüstern hören? Sagt es uns. Jeder Hinweis ist wichtig.«
Es wurde Weihnachten. Wassilissa Iwanowna und die Wachters feierten in ihrer Wohnung mit einem geschmückten Bäumchen, mit Gänsebraten, Rotwein, Plätzchen, Stollen und Lebkuchen. Für die Jablonskaja war es das erste deutsche Weihnachten. Sie war als gute Kommunistin erzogen worden, und in ihrem Elternhaus hatte es kein Weihnachten gegeben: Bei den Komsomolzen lachte man sogar über den christlichen Feiertag und sagte, die Geburt Lenins sei wichtiger als die Geburt dieses Jesus. Was hatte er schon geleistet? Nur Unruhe unter die Völker hatte er getragen, nur Glaubenskriege, wahnsinnige Inquisitionen und einen unnachahmbaren Kapitalismus. Lenin aber hatte einen Staat geschaffen, ein neues Rußland, ein Land der Sowjets, eine völlig neue Gesellschaft, einen Fels des Sozialismus in einer kapitalistisch verseuchten Welt.
Nun saß die Jablonskaja vor dem Bäumchen, an dem die Kerzen flackerten, hörte im Radio die deutschen Weihnachtslieder und spürte etwas von der Ergriffenheit, die alle befällt, wenn die Stille und Besinnlichkeit des Heiligen Abends ins Zimmer tritt. Nikolaj hatte einen langen Brief nach Puschkin zu Jana und den Kindern geschickt und für Peter einen großen ferngesteuerten Kran und für Janina eine sprechende Puppe mit Schlafaugen gekauft. Ob die Geschenke angekommen waren, konnte man nur hoffen. Ein Paket von Frankfurt bis Leningrad geht durch viele Hände –
Am zweiten Weihnachtstag verließen Wassilissa, Nikolaj und Michael Wachter ihre Wohnung. Sie wollten sich einmal verwöhnen lassen in einem feinen Lokal, wo der Oberkellner noch einen Frack trug und jeden Gast mit einer Verbeugung begrüßte. Es war kalt an diesem Abend, das Schneewasser auf den Straßen war zu Eis gefroren, vorsichtig mußte man gehen, am besten, man hielt sich gegenseitig fest und tastete sich Schritt für Schritt langsam vorwärts.
»Wenn ich das Essen nicht schon in der Nase hätte«, sagte Wachter fröhlich, »bliebe ich im warmen Sessel hocken! Aber ich rieche schon den Duft! Meine Lieben, fassen wir uns unter … kann Eis uns erschrecken? Denkt an die Winter in Puschkin. Aufgewachsen sind wir mit –«
Weiter kam er nicht mit seinen Worten. Irgendwoher, aus der Dunkelheit vor oder neben ihnen, aus einem Eingang oder einem Fenster oder von einer Straßenecke aus bellte ein Schuß auf. Durch Zufall rutschte Nikolaj ein wenig aus, aber diese Bewegung rettete ihm das Leben. Die Kugel zischte an seinem Kopf vorbei, schlug an die Hauswand und irrte dann als Querschläger an dem alten Wachter vorbei die Straße hinunter.
Es war auch der Alte, der sofort und richtig reagierte. Er ließ sich fallen, und da sie sich untergehakt hatten, fielen die anderen mit ihm auf die Straße, streckten sich und lagen flach, als der zweite Schuß in halber Höhe über sie hinwegzischte. Stehend hätte er einen von ihnen in den Bauch getroffen.
Eine ganze lange Minute blieben sie auf der vereisten Straße liegen. Dann
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