Das Bernsteinzimmer
war noch immer im Katharinen-Palast und wohnte bei ihrem zukünftigen Schwiegervater – falls Nikolaj die Belagerung Leningrads und den Krieg überlebte.
Vor kurzem hatte sie Wachter den Verband abgenommen. Er trug jetzt ein breites Pflaster auf dem Kopf, nachdem man ihm die Haare kreisrund wie eine Tonsur abrasiert hatte. Einige Witzbolde nannten ihn seitdem ›Pater Michaelus‹ und baten um einen Beichttermin. Wachter machte das Spiel mit; die Hauptsache war, man fragte nicht mehr und sah ihn als Faktotum, als ein Teil der Einrichtung des Schlosses an.
Dr. Wollters blieb mitten im Saal stehen und sah sich um. Den Intarsienfußboden kann man ausbauen, dachte er. Die großen Bernsteintafeln, die Plastiken der Krieger und Göttinnen, vor allem die Masken der ›Sterbenden Krieger‹ am oberen Fries, die, wie man vermutete, sogar von dem berühmtesten Bildhauer der damaligen Zeit, Andreas Schlüter, stammen sollten, waren ebenfalls ohne Schwierigkeiten abzutransportieren, nur die Deckengemälde bereiteten ihm einige Sorgen. Es würde äußerst schwierig sein, die bemalte Deckenschicht herauszuschälen.
Dr. Wollters kannte dieses Zimmer bis ins Detail, und das nicht nur von Fotos. Noch 1937 war er als Gast des Leiters des Städtischen Museums in Leningrad gewesen, hatte die Schätze in den Ausstellungssälen bewundert und war dann mit ihm hinaus nach Puschkin gefahren, zum Katharinen-Palast. Voll stummer Bewunderung, ja mit echter Ergriffenheit hatte er im Bernsteinzimmer gestanden und das goldene Farbenspiel auf sich wirken lassen.
»Guten Tag!« sagte Wachter laut.
Dr. Wollters, der grußlos ins Zimmer gekommen war, als hätte er den Mann auf dem Schemel nicht gesehen, warf einen Blick zur Seite, wie wenn er angespuckt worden wäre. Er erwiderte den Gruß nicht, sondern fragte hochmütig:
»Wer sind denn Sie?«
»Sie müßten mich kennen, mein Herr«, sagte Wachter und blieb auf seinem Schemel sitzen.
»Ich – Sie? Nicht daß ich wüßte. Woher denn?«
»Sie waren schon einmal hier. Mit dem Direktor der Leningrader Städtischen Sammlungen. War's 1937 … ich weiß es nicht mehr genau. Aber ich habe Ihr Gesicht nicht vergessen.«
»Behalten Sie all die Gesichter der Tausenden, die das Bernsteinzimmer besucht haben?« fragte Dr. Wollters und lächelte mokant.
»Nein. Nur wenige, aber Ihres ist dabei. Damals haben Sie gesagt: ›Das ist das wundervollste aus Bernstein, das es auf der Welt gibt!‹ Fast genau an der gleichen Stelle wie jetzt standen Sie damals. Das habe ich nicht vergessen.«
»Sie sind hier einer der Museumsdiener?«
»Ich bin der Verwalter des Bernsteinzimmers. Mein Vorfahr Friedrich Theodor Wachter hatte diesen Auftrag von König Friedrich Wilhelm I. erhalten und ist mit dem Bernsteinzimmer zu Zar Peter I. nach Sankt Petersburg gekommen.«
»Der letzte einer Dienerdynastie. Sieh an!« Dr. Wollters Hochmut schien ohne Grenzen. »Die Nachwelt wird Ihnen dankbar sein, daß Sie das Bernsteinzimmer so gut gepflegt haben.«
»Was geschieht jetzt mit dem Zimmer?« fragte Wachter. Die Arroganz von Dr. Wollters tropfte an ihm ab wie von einer Wachstuchhaut. Vielleicht hätte sein Vater Igor Germanowitsch an seiner Stelle zugeschlagen und diesen Herrn mit Faustschlägen aus dem Saal getrieben. Aber was brachte das? Nur Ärger, nur eine Verhaftung, lange Verhöre, eine Entfernung von Puschkin, eine Strafversetzung nach Deutschland, sogar an die Front konnte man ihn noch schicken mit seinen 55 Jahren , er war ja ein Deutscher … also war es klüger, den Demütigen zu spielen.
»Was geht Sie das an?« Dr. Wollters betrachtete wieder die Deckengemälde. Ohne Beschädigungen gelingt der Ausbau nie, dachte er. Man wird sie nachher vorsichtig restaurieren müssen. Im Notfall malt man sie nach den vorhandenen Detailbildern nach. Es gibt nun mal Grenzen, jeder Experte muß mir da recht geben.
»Ich habe die Verpflichtung, beim Bernsteinzimmer zu bleiben.«
»Kaum zu glauben, daß der Führer sich auch verpflichtet fühlt! Aber Sie können sich ja bewerben. Das ist nicht meine Sache. Nur mache ich Ihnen wenig Hoffnungen, daß man Sie nach Linz holt.«
»Das Zimmer kommt nach Linz?« fragte Wachter. Seine Stimme hatte jeden Klang verloren.
»Nach dem Endsieg. Es wird also nicht mehr lange dauern –«
»Und wo liegt Linz?«
Dr. Wollters sah Wachter an, als habe ein Affe einen Grunzlaut von sich gegeben. Ja, war das denn die Möglichkeit? Der Kerl kannte Linz nicht? Gab's denn so was? Eine Art
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