Das Bernsteinzimmer
Erst als die Tür wieder zugefallen war, atmeten die Herren sichtbar auf. Dr. Runnefeldt sah hinüber zu Dr. Findling, der bleich an der Tischkante lehnte. Dr. Wollters kaute an seiner Unterlippe.
»Den haben Sie aber kräftig ins Kreuz getreten!« sagte Runnefeldt. »Natürlich sind Sie im Recht … aber befürchten Sie keine Repressalien von ihm?«
»Man hätte es diplomatischer ausdrücken sollen, nicht so direkt«, warf Dr. Wollters ein. »Wir kennen doch des Gauleiters Empfindlichkeit. Das wird Folgen haben, Dr. Findling.«
»Es geht nicht um mich, es geht um das Bernsteinzimmer.« Findling stieß sich von der Tischkante ab. »Auch ein Gauleiter muß vor so einem Kunstwerk Geduld lernen.« Er trat an das Fenster, blickte hinunter zum Schloßhof und auf die achtzehn Lkws. Sie wurden von fünf Soldaten bewacht. »Wie lange bleiben Sie, Kollegen?«
»Ich werde übermorgen nach Riga zurückkehren müssen«, sagte Dr. Wollters. »Vermute, daß ich noch einmal nach Pawlowsk muß. Die Ausbeute an Kunstschätzen dort im Schloß ist ja kaum zu überblicken!«
Auf dem breiten Gang zum Treppenhaus blieb Koch kurz stehen und tippte Wellenschlag gegen die Brust.
»Hast du das gehört, Bruno?« fragte er. »Die studierten Kerle wollen mir die Hose übern Hintern ziehen!«
»Eine Frechheit, Gauleiter.« Wellenschlag kannte wie kaum jemand anderes Kochs Charakter und Gemütsverfassung. »Aber …«
»Was aber? Diesen Findling werde ich hüpfen lassen wie einen Frosch! Und du wirst der Storch sein, der ihm ständig im Nacken sitzt!«
»Genaugenommen kann man ihm nichts vorwerfen, Gauleiter.«
»Quatsch nicht so blöd, Bruno.« Koch stampfte weiter in Richtung Treppenhaus. »Du verstehst was vom Saufen, aber nichts von Menschenführung. Auch Findling ist ein Lakai, alle um mich herum sind nur Lakaien, und ein Lakai hat zu tun, was ihm befohlen wird, und den Mund zu halten.«
Er stutzte und blieb stehen. Über den Gang kam ihnen ein älterer Mann entgegen, den Koch irgendwo schon einmal gesehen hatte. Er überlegte schnell, kam aber zu keinem Ergebnis. Ein Mann in einem schäbigen Anzug, der außerdem noch zu weit war. Wie kommt dieser Kerl in den abgesperrten Trakt des Schlosses?
Der Mann zögerte einen Augenblick, dann streckte er den rechten Arm hoch zum deutschen Gruß. »Heil Hitler, Herr Gauleiter!« sagte er sogar. Es klang nicht sehr fröhlich.
»Wer sind Sie?« fragte Koch, ohne den Gruß zu erwidern. »Woher kenne ich Sie? Wir sind uns doch schon mal begegnet …«
»Heute morgen um ein Uhr, Herr Gauleiter. Mein Name ist Michael Wachter. Ich bin mit dem Bernsteinzimmer gekommen.«
»Der Wärter!« rief Wellenschlag. »Der Museumsdiener aus Puschkin, Gauleiter. Der mit seinen 225-Jahren-Vorfahren.«
»Richtig!« Koch kam noch einen Schritt näher und schaute Wachter durchdringend an. »Sie sind einer der wenigen, die das Bernsteinzimmer genau kennen?«
»Vielleicht der einzige, Herr Gauleiter. Ich kenne jedes Mosaiksteinchen. Ich bin in dem Zimmer aufgewachsen, es gehört zu meinem Leben.«
»Kommen Sie mit!« Koch winkte herrisch. »Wir müssen uns darüber unterhalten. Was sind Ihre Pläne?«
»Pläne?« fragte Wachter verständnislos.
»Das Zimmer bleibt jetzt hier … was wollen Sie tun? Sie müssen doch eine Arbeit annehmen.«
»Ich habe gedacht, Herr Gauleiter, daß man mich hier brauchen kann. So wie bisher … als Wächter über das Bernsteinzimmer. Als Museumsdiener. Es gibt keinen, der …«
»Ich weiß. Ich weiß! Das Bernsteinzimmer ersetzte Ihnen die Muttermilch.«
»Fast war es so, Herr Gauleiter.«
»Wie lange schätzen Sie die Aufbauten hier im Schloß?«
»Einige Monate.«
»Der auch, Bruno!« Koch nickte zum Treppenhaus hin.
»Kommen Sie mit, Wachter. Ich habe eine Menge Fragen an Sie. Und das mit Ihrer Übernahme als Wächter überlege ich mir. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann für das Bernsteinzimmer.«
»Danke, Herr Gauleiter.« Wachter schluckte. Ein Kloß im Hals beengte sein Atmen. »Es wäre eine große Ehre für mich, im Schloß arbeiten zu können.«
Sie gingen in ein weitläufiges Zimmer, in dem eine Reihe von Ritterrüstungen an den Wänden standen und in der Mitte einige Glasvitrinen mit historischen Waffen. Kurzschwerter, Stachelkugeln, Beile und Hellebardenköpfe. In der linken hinteren Ecke stand eine moderne Sitzgarnitur, die völlig fremd in dieser Umgebung aus dem Mittelalter ostpreußischer Geschichte wirkte.
Koch setzte sich und winkte Wachter
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